Das erste Gesetz, das im israelischen Parlament erlassen wurde, war das Rückkehrgesetz, das allen Juden die Staatsbürgerschaft im jüdischen Staat anbietet.
In den zehn Jahren nach der Staatsgründung wuchs die Einwohnerzahl Israels von knapp 800.000 auf 2 Millionen. Da die meisten Einwanderer aus dem Nahen Osten und Nordafrika kamen, veränderte sich auch die Zusammensetzung der Bevölkerung.
Allein in den drei Jahren nach der Staatsgründung fanden 260.000 Juden aus dem Nahen Osten und Nordafrika den Weg nach Israel. Ihre Zahl überstieg die Zahl der jüdischen Flüchtlinge aus Europa.
In der Militäroperation „Magischer Teppich“ wurden zwischen 1949 und 1950 fast 50.000 Juden aus dem Jemen nach Israel ausgeflogen. Die verbliebenen jemenitischen Juden verließen das Land in den folgenden Jahren.
In Marokko kam es nach Ausbruch des israelisch-arabischen Krieges zu Pogromen und 18.000 marokkanische Juden flüchteten nach Israel. Als Anfang der 50er Jahre die Zahl der Einwanderer aus Marokko zurückging, begannen zionistische Organisationen gezielt um marokkanischen Juden zu werben, die sich in der Landwirtschaft auskannten. Nach der marokkanischen Unabhängigkeit verschlechterten sich die Lebensbedingungen für die marokkanischen Juden und 1955 und 1956 kamen statt Premiumeinwanderern auch aus Marokko die Massen. Auf die Flucht reagierte Marokko mit einem Verbot der Ausreise. Nachdem 1961 ein illegales Flüchtlingsboot gesunken war, wurde die Auswanderung erlaubt und weitere 70.000 marokkanische Juden gelangten nach Israel
Heute zählt die einst 250.000 Mitglieder große jüdische Gemeinde in Marokko nur noch 4500 Juden.
In allen arabischen Staaten leben heute weit weniger als 10.000 Juden.
Die Eltern meiner Frau Keren kommen aus Tunesien, wo sich die jüdische Gemeinde seit 1949 von 100.000 auf 1.000 verkleinerte.
Aus dem Irak flohen bis 1952 120.000 Juden. Lediglich 6000 Juden blieben im Irak zurück. 1969 zählte die jüdische Gemeinde im Irak 2000 Mitglieder, die Zeuge einer Hinrichtungswelle wurden. Heute leben weniger als 100 Juden im Irak.
Bis in die frühen 70er Jahre flüchteten ca. eine Million Juden aus ihren Heimatländern im Nahen Osten und Nordafrika. Ca. 600.000 von Ihnen gelangten nach Israel. Heute bilden sie und ihre Nachfahren die größte Einwanderergruppe Israels. Etwas mehr als die Hälfte der Juden in Israel haben orientalische oder nordafrikanische Wurzeln.
Der Flüchtlingsstrom wurde Anfang der 50er Jahre so gewaltig, dass in Israel Auffanglager notwendig wurden. 1952 haben rund 200.000 Flüchtlinge in Zeltstädten gewohnt, so genannten Übergangslagern. Die Auflösung der jüdischen Flüchtlingslager in Israel und die Integration der Einwanderer war eine Herausforderung für den jungen Staat.
Der sozialistisch angelegte jüdische Staat lies die Umsetzung seiner Gleichheitsideale bei der Eingliederung der Flüchtlinge missen. Die Einwanderer aus Nordafrika und dem Nahen Osten wurden in Städte geschickt, die nach dem Befreiungskrieg auf wenig erschlossenem Boden errichtet wurden, um das Siedlungsgebiet zu definieren. In gewisser Weise sind diese Entwicklungsstädte das israelische Gegenstück zu den palästinensischen Flüchtlingslagern. Ihre Bewohner fanden sich physisch an den Rand der Gesellschaft gedrängt.
Die Ashkenasi drängten die arabisch und persisch sprechenden und aussehenden Juden dazu Hebräisch zu lernen und auch sonst die israelischen Normen zu übernehmen.
Die soziokulturelle Ausgrenzung ging mit sozioökonomischen Härten einher. Viele Einwanderer aus den arabischen Ländern beherrschten ein Handwerk oder hatten einen Beruf gelernt, dem sie in ihrer neuen Heimat plötzlich nicht mehr nachgehen konnten.
Bei einer Konferenz nordafrikanischer Einwanderer wurde schon im August 1949 offizielle und inoffizielle Diskriminierung angeprangert. Von Seiten der Jewish Agency wurde den aufgebrachten Einwanderern nahegelegt, sich von den Bräuchen der Diaspora zu trennen und sich am Siedlungswerk zu beteiligen. Die Konferenz endete ohne Beschlüsse. Vier Monate zuvor wurde die Herabwürdigung der Einwanderer aus Nordafrika in der Haaretz manifestiert. Arye Gelblum teilte in seinem Artikel „Ich war Einwanderer für einen Monat“ den Flüchtlingsstrom nach der Staatsgründung in drei Einwanderergruppen auf. Juden vom Balkan, ashkenasische Juden aus Europa und arabisch-afrikanische Juden. Für Jugoslawen und Bulgaren fand Gelblum lobende Worte und beschrieb sie als Elite während er den Holocaust-Überlebenden einen vergleichbar geringeren Wert zuwies.
Über die arabisch-afrikanischen Einwanderer schrieb er, dass die Primitivität dieser Leute in Israel beispiellos sei. Ihre Bildung sei begrenzt und sie einen unfähig etwas intellektuell aufzunehmen. Ihr Niveau sei unter dem der Araber, die sie im Land Israel angetroffen hätten.
Wie die Einwanderer aus Nordafrika wurden auch die Einwanderer aus den Staaten des Nahen Ostens diskriminiert.
Ruti Samir war sechs Jahre alt, als sie 1951 mit ihrer Familie aus ihrer Heimatstadt Bagdad nach Israel geflohen ist.
Nachdem arabische Armeen, unter ihren die irakische Armee, 1948 den jüdischen Staat überfielen, kam es im Irak zu Anti-Zionistischen Demonstrationen. Die Juden im Irak sahen sich zunehmender Diskriminierung ausgesetzt. Berufsverbote griffen auf immer mehr Bereiche über. Immer mehr jüdisches Eigentum wurde konfisziert. Auf die Unterstützung des Zionismus standen drastische Strafen bis zum Tod. Die Ausreise wurde den Juden zunächst verweigert. Israel sollte nicht durch Zuwanderung gestärkt werden.
1950 gelang es dann dem irakischen Juden Shlomo Hillel auf raffinierte Weise ein Abkommen auszuhandeln, dass den irakischen Juden für den Zeitraum von einem Jahr die Ausreise ermöglichte.
Als der Vater von Ruti Samir, der viele Sprachen beherrschte, seine Anstellung als Kurier im Staatsdienst verlor, schrieb sich ihre Familie für die Ausreise ein. Im Irak wurden ihre Koffer noch am Flughafen nach Wertgegenständen durchsucht. Als sie am Flughafen in Lod angekommen, israelischen Boden betreten haben, wurden sie mit dem Insektizid DDT abgespritzt. Mit Gift besprüht zu werden, verursachte vielen Einwanderern ein Trauma, von dem sie sich nur sehr schwer erholten.
Vom Flughafen weg wurde die Familie von Ruti ins ehemalige britische Internierungslager Atlit gebracht, das zu der Zeit als Durchgangslager für den Flüchtlingsstrom genutzt wurde und in dem eine Moskitoplage wütete.
Der Familie von Ruti Samir wurde eine Wellblechbehausung in einem Flüchtlingslager in Kaduri zugewiesen, einem Ort im Norden von Israel. Es habe großer Mangel geherrscht, erzählt Ruti. Sie erinnert sich an unerträgliche Flöhe und daran, wie sie schließlich nach Rishon LeZion aufbrachen, wo die Großmutter von Ruti Samir mit den ledigen Brüdern ihres Vaters und einem verheirateten Onkel und dessen Familie in einer Zeltstadt lebte. Im Winter seien die Zelte feucht gewesen und bei Sturm seien sie weggeweht worden, erinnert sich Ruti. Die Lebensmittelzuteilungen hätten den Hunger nicht gestillt. Mit ihrer Schwester hätte sie sich das zugeteilte Ei teilen müssen, erzählt sie und später sei das Ei durch Eipulver ersetzt worden
Mit Sarah, einer privaten Betreuerin, die in den 50er Jahren von Afghanistan nach Israel gelangte, erinnert sich Ruti an die Lebensmittelrationierung, das Eiweißpulver und die wenigen Scheiben Schwarzbrot, die den Familien zugeteilt wurden. Und daran, wie auch diese geringen Zuteilungen noch auf dem Schwarzmarkt gehandelt wurden, um ein Huhn für das Shabatmahl zu erwerben.
Der Vater von Ruti Samir kam nie wieder über eine Anstellung als Hilfsarbeiter hinaus. Als Ruti wenige Wochen nach ihrer Einreise eingeschult wurde, musste sie Hebräisch sprechen. In ihrer Familie wurde nur Arabisch geredet. Zwei Jahre nach ihrer Ankunft in Israel, als Ruti Samir acht Jahre alt war, wurde der Familie eine jener Holzhütten zugeteilt, die in Israel errichtet wurden, um die Zeltstädte aufzulösen. Es sei ein großer Schritt hin zur Normalisierung der Lebensverhältnisse gewesen, sagt Ruti.
Im Alter von 15 ging Ruti Samir von der Schule und begann Arbeiten anzunehmen, die Jugendlichen erlaubt waren. Sie packte Orangen ab und fand eine Vielzahl weiterer Tätigkeiten. Mit 18 Jahren heiratete sie einen ihrer Cousins und bekam zwei Kinder. Sie habe sich nie vor Arbeit gedrückt, sagt sie. Seit über 30 Jahren arbeitet sie in einem Elternheim der Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft. Vor Jahren hätte sie bereits in Pension gehen können. In den 30 Jahren in denen sie tagtäglich mit europäischen Juden arbeitet, hat sie außer zwei Sätzen Deutsch nichts von deren Kultur für sich übernommen.
Wenn Ruti Samir etwas mit meiner Kollegin Ruti Hiauwi zu besprechen hat, tut sie das manchmal auf irakisch. Ruti Hiauwis Eltern hatten ein zweistöckiges Haus in Basra, in dem sie oft Verwandte und Freunde empfingen. Ihrem Vater gehörte eine Textilfabrik. Ihre Mutter sei so schön gewesen, erzählt sie, dass wiederholt versucht wurde sie zu entführen. Als ihren Eltern 1951 den Irak verließen, verloren sie all ihren Besitz. In Israel arbeitete ihr Vater auf dem Carmel Markt in Tel Aviv, wo er einen Stand hatte und Gemüse verkaufte. Eine seiner Schwestern erkrankte schwer vom DDT, das bei ihrer Ankunft in Israel auf sie gesprüht wurde. In der Schule, so versichert Ruti Hiauwi, hätten die aschkenasischen LehrerInnen den Mizrahi Schülern mit Freude das Lineal auf die Finger geschlagen.
Eine andere Jüdin irakischer Herkunft ist Viktoria, eine ältere Bekannte, die unweit von uns wohnt.
Bei ihrer Ausreise aus dem Irak im Jahr 1951 war Viktoria 12 Jahre alt und hatte sieben Geschwister. Ihr Vater war Fremdsprachenkorrespondent im Dienst der Regierung.
Mit dem Ausbruch des Israelisch-Arabischen Kriegs sei die die Lage für die Juden im Irak zunehmend unangenehm geworden, erinnert sie sich. Eindrücklich ist ihr die Hinrichtung eines angeblichen Kollaborateurs in Erinnerung geblieben. In einem Schauprozess wurde 1948 ein jüdischer Geschäftsmann wegen vermeintlicher Militärhilfe für Israel zum Tod verurteilt und vor den Augen von Tausenden Zuschauern gehängt. Das Signal, das von diesem Schauprozess und -urteil an die jüdische Gemeinde ausging war klar. Und der Judenhass kochte immer mehr auf. Irakische Soldaten fielen im Krieg oder kehrten verwundet zurück. Nach 49 zürnte der Mob und Victoria erinnert sich das sie Angst gehabt habe auf die Straße zu gehen.
Der irakische Staat begann seinen Apparat von Juden zu säubern. Der Verdacht auf Kollaboration fiel schließlich auch auf ihren Vater, der vor die Wahl gestellt wurde auszureisen oder wegen Landesverrats vor Gericht gestellt zu werden. Viktorias Eltern wurde ihr prächtiges Haus enteignet und sie mussten ihren gesamten Besitz zurücklassen.
Schätzungen zu Folge verloren die jüdischen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Nordafrika Besitz im Wert von ca. 30 Milliarden $.
Noch beim Gang zum Flugzeug hat ein irakischer Polizist der Mutter von Viktoria eine Kette vom Hals gerissen. Zwei ihrer Schwestern hätten bleibende Schäden von DDT davongetragen, erzählt Viktoria. Ihr Vater verkraftete nur schlecht, wieder von vorne anfangen zu müssen und begann zu trinken. Viktoria selbst wurde in ein Jugenddorf geschickt, wo sie schließlich ihren Mann kennenlernte. Dieser war bei seiner Ausreise aus dem Irak 15 Jahre alt und hatte neun Geschwister. Er wurde für das israelische Militär rekrutiert und 1956 in den Sinai-Krieg geschickt. Als er zurückkehrte zogen er und Viktoria ein Haus in einer aufgegebenen arabischen Siedlung nördlich von Tel Aviv. Er begann Hühner auf dem Markt von Tel Aviv zu verkaufen. Mit einem Leiterwagen, den er in stundenlangem Fußmarsch hinter sich herzog. Mit dem Geld, dass er Tag um Tag verdiente, begann er mit Fleisch zu handeln und scheffelte so das Geld für ihren Umzug nach Ramat Gan zusammen. Viktoria erzählt, dass sie nicht minder hart als Putzkraft und später als Köchin in einem Altenheim arbeitete.
Viktoria hegte grosse Sympathie für die Proteste äthiopischer Einwanderer im Sommer 2015. Sie kenne das Gefühl aufgrund ihrer Hautfarbe abgelehnt zu werden nur sehr gut, sagt sie. Den aufgestauten Frust könne sie gut nachvollziehen. Und verweist auf die Ausschreitungen1959, die im Wadi Salib in Haifa ihren Ausgang nahmen.
Im vormals arabischen Stadtviertel Wadi Salib wurden viele nordafrikanische und orientalische Einwanderer angesiedelt. Das Viertel entwickelte sich schnell zu einem vernachlässigten, übervölkerten Slum. Im Verlauf des Ausfruhrs wurden Gebäude der regierenden Arbeiterpartei und der Histadrut angegriffen, sakrosante Institutionen des jüdischen Arbeiter- und Bauernstaates.
Nach gängiger Lesart war die misslungene Integration der Juden aus Nordafrika und dem Orient der Grund für das politische Erdbeben 1977, als die Arbeiterpartei, deren Führungsanspruch auf ewig zementiert zu sein schien, gestürzt wurde. Begins historischer Wahlerfolg 1977 mit seinem rechtskonservativen Likud beruht auf der Mobilisierung der unzufriedenen Einwanderer aus arabischen Ländern.
Die Einwanderer aus den arabischen Ländern und Persien wurden mit der Zeit selbstbewusster und und entwickelten eine eigene Mizrahi Identität. Mizrahi ist hebräisch für östlich und steht für das Nicht-Aschkenasische jüdische Israel. Im Kulturkampf zwischen Ashkenasi und Mizrahi spiegelt sich die schwierige Frage nach der israelischen Identität.
Natürlich zerfällt die traditionelle Bindung an die Einwanderergruppe mit den Generationen. Tatsächlich entstammen heute ein Drittel der israelischen Kinder gemischten Ehen. Gleichzeitig erfährt die Pflege der Mizrahi Kultur gerade eine Blüte.
Doch im kollektiven Gedächtnis der Einwanderer aus dem Nahen Osten und Nordafrika wirkt die Diskriminierung durch das linke Establishment bis heute nach. Der abgelaufene Wahlkampf hat in Erinnerung gerufen, dass es jenseits von Tel Aviv einen Staat Israel mit einer wertkonservativen Bevölkerung gibt, die ihre Traditionsverbundenheit von „den Linken“ gefährdet sieht.
Der linke Künstler Yair Garbutz hat wenige Tage vor den Parlamentswahlen auf einer Großdemonstration in Tel Aviv gesprochen, die groß und breit als Beleg für die Wechselstimmung berichtet wurde, und sich in seiner Rede abfällig über das Amulett-Küssen geäußert, eine weit verbreitete jüdische Tradition. Viele Wähler orientalischer und nordafrikanischer Herkunft, die tatsächlich damit geliebäugelt haben, ihre Stimme dem Wechsel zu geben haben nach der Demonstration davon Abstand genommen. Die Rede von Garbutz gilt als Knackpunkt des Wahlkampfes, bei dem Bibi schon geschlagen zu sein schien. Ich lebe in einem sozial schwachen Viertel von Ramat Gan. Meine Nachbarn sind Mizrahi. Sie sind tunesischer, irakischer, jemenitischer und libyscher Abstammung und den jüdischen Traditionen herzlich verbunden. Obwohl sie reflektiert genug sind, um zu verstehen, dass sie mit ihren konkreten Problemen bei Netanyahu schlecht aufgehoben sind, haben sie ihn alle gewählt.
Und die Schriftstellerin Aloa Kimchi nach der Wahl an die Wähler Netanyahus: “Lang lebe die Dummheit, die Bosheit und die falsche Weltanschauung. Trinkt doch Zyanid, ihr Neandertaler.”
Die Wahl brachte mit Miri Regev eine Mizrahi als Kulturministerin. Regev entstammt einer Familie marokkanischer Einwanderer und ist in der Entwicklungsstadt Kiriat Gat aufgewachsen. In ihrem Auftreten verkörpert sie die israelische Peripherie, jenen Gegenpol zum säkularen, modernen, weißen Tel Aviv. Ihre Entschlossenheit, gegen die die linke aschkenasische Hegemonie in der israelischen Kultur vorzugehen, bedingt seit ihrem Amtsantritt die ärgsten Kontroversen. Der Kulturkampf ist ein hochemotionales Thema. Auch wegen seiner sozioökonomischen Komponente. So liegt das Einkommen von Mizrahi ein Viertel unter dem der Aschkenasi. 2007 bezeichnete die Hälfte der Israelis das Verhältnis zwischen Ashkenasi und Mizrahi als „nicht gut“. In meiner Nachbarschaft sind es doppelt so viele.
Vielen meiner weltoffenen linken aschkenasischen Bekannten und Freunden bezeichnen die Mizrahi schlicht als Arsim, wobei das populäre Schimpfwort Ars so viel wie Radaubruder bedeutet. Ein Teil der Mizrahi hat sich die abwertende Fremdzuschreibung Ars zu Eigen gemacht. Adi Keissar ist Lyrikerin, Journalistin und Gründerin des Poesie-Projekts „Ars Poetica“. Keissar ist jemenitischer Abstammung und sagt, sie habe Poesie immer nur als als weiß und elitär und ohne Bezug zu sich selbst gesehen., Die Lyrik, die sie in der Schule gelernt habe sei fast ausschließlich von ashkenazischen Männern geschrieben worden.
Vor drei Jahren beschloss sie, eine Alternative zu schaffen um “die Dissonanz in meinem Kopf zu versöhnen“, wie sie sagt. Ars Poetica sind Lyrikveranstaltungen im Stil einer Hafla mit Lyrikern, Mizrahi DJs und manchmal Bauchtänzerinnen.
Ma’or Zaguri, ist Israeli marokkanischer Abstammung und angesehener Drehbuchautor und Regisseur. Seine Theaterstücke, verdienten sich in Feuilletons großer Zeitungen Bestnoten. Zaguri ist als Autor und Regisseur für die Fernsehserie “Zaguri Imperium” verantwortlich, in deren Mittelpunkt eine marokkanische Einwandererfamilie in der Entwicklungsstadt Beer Sheva steht. Thematisch behandelt die Serie die patriarchalischen Strukturen der Einwandererfamilie und die Spannungen zwischen Sepharden und Aschkenasi. Die Serie wurde ein beispielloser Erfolg. In unserem Viertel ist es ein Gassenhauer.
Zaguri ist ein streitbarer Gegner der aschkenasischen Vorherrschaft in der israelischen Kultur. Und er sieht deren Dämmerung gekommen. Ein Indiz für ihn ist die Biton Kommission unter Federführung von Erez Biton, eines israelischen Poeten algerischer Abstammung. Biton legte dem Bildungsministerium im Sommer einen Katalog von Vorschlägen für die Stärkung des sephardischen und orientalischen Erbes vor, u.a. eine Erneuerung des Literaturkanons und Schulausflüge nach Spanien und Marokko.
Ungefähr in der Zeit, als die Kommission ihren 350seitigen Bericht vorlegte, lieferte Gidi Orscher ein Paradebeispiel für dessen Notwenigkeit. Der Filmkritiker des Armeesenders enthemmte sich auf facebook eine rassistische Tirade gegen die Taditionsverbundenheit der Mizrahi vom Stapel zu lassen. . „Und das nächste Mal wenn ihr einen Herzinfarkt habt“, so ging sein rant, „macht keinen Beipass, sondern legt Euch ein Hühnerbein auf die Stirn“ usw. Im Zuge der anschließenden Diskussion empfahl der Wissenschaftler Arie Ruttenberg den Mizrahi die Überlegenheit der europäischen Kultur anzuerkennen.
Dies veranlasste Maor Zaguri am 15.7.16 in der auflagenstärksten israelischen Zeitung Yedioth Achronith den Artikel „Die weissen Panther“ zu veröffentlichen. Der Titel ist eine ironische Anlehnung an die Schwarze Panther Bewegung, die Anfang der 70er Jahre ihren Unmut über die Diskriminierung der Einwanderer aus orientalischen und nordafrikanischen Ländern auf die Straße brachte. Als legendär gilt bis heute ein Treffen der Vertreter der Schwarzen Panther mit der damaligen Ministerpräsidentin Golda Meir, die sich stets weigerte abstrit, in der Bewegung einen Sozialprotest zu sehen. Im Anschluss an das Treffen beschrieb Golda Meir die Vertreter der Schwarzen Panteher als „nicht nett“, ein Ausspruch, der im kollektiven Gedächtnis der Mizrahi einen prominenten Platz hat. Zu Zaguris Artikel: Maor ruft die Bürger Israels in polemischer Absicht auf, sich zu entscheiden, ob sie auf der Seite der Mizrahi stehen oder auf der Seite der Rassisten unter den Aschkenasi. Er beschreibt eine neue Phase des Kulturkrieges. Nachdem die Mizrahi in der ersten Phase herabgewürdigt und an den Rand gedrängt worden seien und in der zweiten Phase den Spott hätten ertragen müssen, sei nun eine Phase erreicht, in der die rassistischen Ashkenasi eine Abwehrschlacht schlagen. Seit Staatsgründung, so fasst Zaguri zusammen hätte eine Einwanderergruppe geherrscht und eine Einwanderergruppe gedient und damit sei Schluss. Bezug nehmend auf Kulturschaffenden, die öffentlich drohen das Land zu verlassen, ruft er zu, die Koffer zu packen. Wenn die Rassisten tatsächlich verschwinden würden könnten Ashkenasi und Mizrahi in Frieden leben. Und dann auch Frieden mit ihren arabischen Nachbarn schliessen.
Als wir ein paar Tage später in einem Cafe sitzen, bezeichnet es Ma’or als geradezu absurd, dass viele Ashkenasi glauben würden, die europäische Kultur sei überlegen. Das Europa aus dem die Ashkenasi stammen würden, hätte rassistischer und schrecklicher nicht sein können. Es sei an der Zeit mit der Vorstellung der kulturellen Überlegenheit der Ashkenasi zu brechen. Ma’or fordert nicht weniger als einen Umbruch.
Unverkennbar ist die Durchsetzung der Mizrahi Identität in der Musik.
Meine Kolleginnen nordafrikanischer und orientalischer Abstammung sind in ihrer Hingabe zur Mizrahi Musik, bzw. Mittelmeermusik, wie der kommerzielle Ableger der Mizrahi Musik genauer bezeichnet werden muss, vereint. Auf Arbeit schalten sie die Fernseher stets auf den Musikkanal 24, der ursprünglich einmal die Bandbreite israelischer Musik vorstellen sollte, heute aber pausenlos Mittelmeermusik sendet.
Meine Nachbarn haben selbstverständlich auch den ganzen Tag den Musikkanal 24 eingeschaltet.
Mizrahi Musik war zu Zeiten der Vormachtstellung der sekulär-ashkenaisischen Eretz Israel Musik Spartenmusik, der keine Bühne geboten wurde. Ihre Ablehnung ging einher mit der Ablehnung der orientalischen Kultur an sich. Entsprechend trug die an den Rand gedrängte orientalische Musik Züge des Protestes. Den Charakter des Protestes gegen die Vorherrschaft der sekulär-ashkenaisischen Musik trägt sie noch heute. In der Mittelmeermusik hat sie Vergeltung geübt. Der beispielhafte Song “Glücksrevolution” von Lior Narkiss und Omer Adam hat 21 Millionen Klicks. Mehr als doppelt so viele wie es Hebräisch sprechende Menschen auf der Erde gibt.
Die Revolution, von der Zaguri spricht hat in der Musik bereits stattgefunden. So plärrt Eyal Golan, Sohn jüdisch-marrokanischer Einwanderer und unbestrittener König der Mittelmeermusik inzwischen auch bei russischen Hochzeiten und arabsichen Feiern quer durchs Land aus den Boxen.
Noch vor vier Jahren kam es zu einer Kontroverse, als der Liedermacher Yehoram Gaon die Mizrahi Musik als „Müll“ bezeichnete.
Aufgrund der sozialen Implikationen ist es aber eigentlich gar nicht möglich die Mittelmeermusik zu kritisieren. Das musste auch der Präsidentschaftsanwärter Dan Shehtman erfahren, der etwas in die Richtung sagte und darüber seine Aussichten Staatsoberhaupt zu werden, einbrechen sah.
Zum Schluss noch eine Annekdote: Unser Tiertherapeut im Heim ist ein verkappter Soziologe. Wenn er nicht vom Sozialverhalten der Tiere spricht, erzählt er von den kulturellen Eigenheiten der verschiedenen Einwanderergruppen in Israel. Eine seiner liebsten Geschichten handelt von einer schwarzen Katze, die er hatte und einer Frau aus Finnland, die als Volontärin nach Israel kam und einen irakischen Israeli geheiratet hat. Die beiden lernten sich auf Arbeit kennen und wurden ein Paar. Wenige Monate nach der Hochzeit kam sie zu unserem Tierpädagogen und bat darum ihr die schwarze Katze zu verkaufen. Sie sei bereit gewesen, sehr viel Geld zu bezahlen, wie der Therapeut betont. Der Grund für das Interesse der Finnin an der Katze war die Familie ihres Angetrauten. Tag und Nacht sah sie ihr Haus von seiner Verwandtschaft belagert. Mit ihrer Hochzeit hatte der Orient bei ihr Einzug gehalten. Wo sie sich finnische Zweisamkeit vorgestellt hatte, regierte nun die Großfamilie. Eine schwarze Katze im Haus, so viel wusste sie über den irakischen Aberglauben, würde dem Treiben aber Einhalt gebieten.