Aufstand im Warschauer Ghetto

Am 19.04.1943 begann der Aufstand im Warschauer Ghetto. Mordechai Anilevitz schrieb in seinem letzten Brief vom 23.04.: „Was wir durchgemacht haben, lässt sich unmöglich mit Worten ausdrücken. Wir sind uns darüber klar, dass das Geschehene unsere kühnsten Träume übertrifft. Die Deutschen waren zweimal genötigt, aus dem Ghetto zu flüchten.“

Yizchak Katzenelson war ein hoch angesehener Lehrer in Lodz und einer der größten jüdischen Dichter seiner Zeit. Er schrieb in jiddischer und hebräischer Sprache leichte Verse über Jugend und Lebensfreude, verfasste aber auch Gedichte über die tragischen Aspekte des Lebens. Der 1886 geborene Poet war ein leidenschaftlicher Zionist, der die jüdische Gemeinde in Palästina mehrmals bereiste und im Kibbutz Borochov in Lodz aktiv war, wo junge Juden für die Auswanderung nach Palästina tauglich gemacht wurden.
Nach dem deutschen Überfall auf Polen floh Yizchak Katzenelson mit seiner Familie nach Warschau und hörte auf zu schreiben.

Ende 1939 baute die Pioniersbewegung Dror in in der Dzielna 34 in Warschau ein Kibbutz auf, gründete eine Untergrundpresse, betrieb eine Suppenküche und organisierte verbotene sechswöchige Seminare. Katzenelson war vom Geist des Widerstands der jungen Zionisten inspiriert und begann wieder zu schreiben. Er schrieb Tag und Nacht, veröffentlichte in der Untergrundzeitung von Dror, unterrichtete Bibel und etablierte eine Theatergruppe im Ghetto.

Im März 1944 schaffte es Katzenelson das Manuskript unter den Wurzeln eines alten Baumes zu vergraben. Eine Kopie des Gedichtes auf dünnem Papier wurde in den Ledergriff eines Reisekoffers eingenäht, mit dem die junge Jüdin Ruth Adler das Lager verließ. Sie durfte mit ihrem britischen Palästina-Paß im Austausch gegen Templer-Deutsche nach Palästina ausreisen. Miriam Novich gelang es das vergrabenen Gedicht aus dem Lager schmuggeln zu lassen. Yitzhak Katzenelson überlebte den Krieg nicht. Er und sein ältester Sohn wurden nach Auschwitz deportiert und dort am Tag ihrer Ankunft, am 1. Mai 1944, ermordet. Beide Fassungen von „Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk“ befinden sich im nach ihm benannten Yizchak Katzenelson Holocaust und Jüdischer Widerstand Museum im Kibbutz der Ghettokaempfer (Lochamei Hagettaot)

Eine der Schülerinnen von Katzenelson war Zivia Lubetkin, eine der späteren Anführerinnen des Aufstands im Warschauer Ghetto. Die 1914 geborene Zivia Lubetkin die laut der Historikerin Bella Guttermann von Weggefährten als schüchtern und starrsinnig beschrieben wurde, war 1939 Hachshara Koordinatorin für den Pionier Weltverband HeChalutz in Warschau. Nach der deutschen und sowjetischen Besetzung Polens trat sie den Marsch nach Osten an, bei dem sie zahllose Ortschaften aufsuchte um die versprengten Mitglieder der Bewegung aufzusuchen. Sie half beim illegalen Aufbau der Pioniersbewegung Dror in der sowjetischen Zone und kehrte im Auftrag von Dror im Januar 1940 in das von Deutschen besetzte Warschau zurück. Sie verhandelte mit dem Joint Distribution Committee und dem Judenrat über Zuteilungen für die Dror Kommune in der Dzielna 34und war für die Kommunikation mit der Außenwelt verantwortlich. Innerhalb der Bewegung entwickelte sie sich zunehmend zur Entscheidungsträgerin. Die Historikerin Bella Guttermann strich in einem Vortrag über Lubetkin an der Uni Tel Aviv (im Rahmen der Vorlesungsreihe über Frauen in der Shoa) heraus, dass sie „einfach und direkt war und das Maximum von anderen und von sich selbst forderte. Für sie waren Denken und Handeln eins.“

Im März 1942 erreichten Berichte von der Judenvernichtung in Chelmo das Ghetto.

Zivia Lubetkin war im Juli 1942 Mitgründerin der Zydowska Organizacja Bojowa (ŻOB). Die Initiative eine kämpfende Untergrundorganisation yu errichten kam von den Vertretern der zionistischer Jugendbewegungen Hashomer Hatzair, Dror und Akiva. Im Oktober schloss sich ihnen die Partei Poalei Zion an. Innerhalb kurzer Zeit schlossen sich ihr weitere Jugendbewegungen und nicht-zionistische Parteien an. Mordechai Anielewicz, 23 Jahre alt und Mitglied des „Hashomer Hatzair“, wurde zum Kommandanten der ZOB ernannt. Die revisionistische Jugendbewegung Beitar gründete eine eigene Kampforganisation, den Jüdischen Militärverband (ZZW). Im Januar 1943 wagte die ŻOB unter der Leitung den bewaffneten Widerstand gegen die Massendeportationen. Stellvertretender Kommandant war Zivias späterer Ehemann Yizhak „Antek“ Zuckermann.
Dem Januar Aufstand waren gescheiterte Waffenlieferungen und große Enttäuschungen vorausgegangen. Doch der Verlauf des Januar Aufstandes gab den Widerstandskämpfern Mut. Ihr System der verbundenen Dachböden funktionierte und sie blieben überraschend am Leben. Der inzwischen verstorbene Heimbewohner Ephraim Perlmann erinnerte sich wie die Kämpfer die Dachböden verbunden hatten und ihm sagten, dass niemand mehr deportiert würde. Ab jetzt, so wurde ihm gesagt, würden sie alle im Ghetto sterben.

Am 19. April 1943 brach der legendäre Aufstand im Warschauer Ghetto aus. Das Kommando über die Aufständischen hatte Mordechai Anilevitz. Sein Stellvertreter Antek Zuckermann befand sich als Verbindungsmann zum polnischen Widerstand auf der arischen Seite.

1961 wurde Zivia Lubetkin im Eichmann-Prozess gehört und war die einzige Zeugin, die bei ihrer Aussage sitzen geblieben ist. Über den Ausbruch des Aufstandes sagte sie aus: „Als der Tag anbrach, stand ich im oberen Teil dieses Gebäudes, in der Nalewski Strasse 23, und sah die Tausende von Deutschen, die das Ghetto umzingelten – mit Maschinengewehren, mit Kanonen. Und dann begannen sie das Ghetto zu betreten, mit ihren Waffen, als würden sie zur russischen Front gehen. Und da standen wir ihnen gegenüber – etwa zwanzig junge Männer und Frauen. Was waren die Waffen in unseren Händen? Jeder hatte einen Revolver, jeder hatte eine Handgranate; Die ganze Einheit hatte zwei Gewehre, und außerdem hatten wir selbstgebastelte Bomben, die wir auf primitive Art hergestellt haben, die mit einem Streichholz gezündet werden mussten, und Molotow-Cocktails.
Es war merkwürdig die etwas mehr als 20 jüdischen Jungen und Mädchen zu sehen, die diesem bewaffneten und mächtigen Feind gegenüberstanden und freudig und fröhlich waren. Warum waren sie freudig und fröhlich? Wir wussten, dass unser Ende gekommen war. Wir wussten vorher, dass sie uns besiegen würden, aber wir wussten auch, dass sie einen hohen Preis für unser Leben zahlen würden“

In einem Interview mit Yad VaShem erinnerte sich der Widerstandskämpfer Simcha „Kazik“ Rotem, der einer Zehnergruppe von Männern und Frauen unter dem Kommando von Hanoch Guttmann im Areal der Bürstenmacherwerkstätten zugeteilt war, wie unter dem Tor ein Tunnel gegraben und darin Sprengstoff deponiert wurde. Über das Anrücken der Deutschen schreibt Rotem in seinen Memoiren: „Sie marschierten, endlos. Nach ihnen kamen Panzer, Panzerwagen, leichte Artillerie und hunderte Männer der Waffen-SS auf Motorrädern. […] Plötzlich spürte ich wie schwach wir waren. Wer waren wir, was galt unsere Widerstandskraft gegen Panzer und Panzerwagen? Wir hatten nur Pistolen und Handgranaten. Trotzdem blieb mein Kampfgeist unerschüttert. Endlich kam die Zeit mit ihnen abzurechnen.“

Von seinem Beobachtungsposten sah Rotem am Tag nach dem Ausbruch des Aufstandes im zentralen Ghetto, wie sich eine SS-Einheit dem Bürstenmachertor näherte. Guttmann kam hinzu, wartete den besten Augenblick ab und zündete den Sprengstoff. Kazik im Interview mit Yad VaShem: „Ich war nach der massiven Explosion mit dem Anblick zerschlagener Gliedmaßen und deutscher Körper in der Luft geschockt. Dieses deutsche Volk, das Europa erobert und vor den Toren Moskaus geklopft hatte – dies war kein Schauspiel, an das wir gewöhnt waren, und sicherlich nicht in einem Ghetto. Juden töteten Deutsche. Es war etwas Außergewöhnliches… Ich war tatsächlich einige Zeit gelähmt, als die Deutschen vor dem Chaos davonliefen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren wir jahrelang daran gewöhnt, dass Juden um ihr Leben rannten […] Es war das erste Mal seit dem Ausbruch des Krieges, dass die Deutschen flüchteten.“

Der Straßenkampf dauerte 5 Tage. In dieser Zeit hatten die Juden in der Nacht die Macht im Ghetto und das Gefühl des Muts sich zu wehren.
Dann aber begannen die Deutschen das Ghetto abzubrennen. Es gab keine direkten Konfrontationen mehr und die Widerstandskämpfer und verbliebenen Bewohner des Ghettos mussten sich in den stickigen und heißen Bunkern verstecken. Am Tag vor ihrer Entdeckung durch die Deutschen beschloss das ZOB-Kommando im Bunker in der Mila 18, dass sich Lubetkin aufmachen solle, um eine Verbindung durch die Abwasserkanäle zur arischen Seite zu finden. Als sie zurückkehrte waren Anilewitz und seine Kameraden tot. Am 10. Mai 1943 führte Zivia Lubetkin die letzten Kämpfer durch die Kanalisation. Die Flucht dauerte 48 Stunden.

Im August 1944 nahmen die wenigen Überlebenden des Aufstandes im Warschauer Ghetto am Warschauer Aufstand der Polen gegen die deutsche Besatzung teil.

Im Juni 1946 hielt die Widerstandskämpferin Zivia Lubetkin eine Rede auf der Konferenz der Vereinten Kibbuz-Bewegung in Yagur. Einen ganzen Tag lang stand sie in einem riesigen Zelt und berichtete von „den Tagen der Zerstörung und der Revolte“ (wie sie später ihr Buch zu diesem Thema nannte). Zivia sagte einleitend zu ihren Ausführungen, dass sie während der Zeit, als sie von Zerstörung und Tod umgeben waren, nur wegen dem Gedanken an die ferne Heimat und die Arbeiterbewegung in Erez Israel am Leben blieben.