Zeitzeugen pt.1

Ich lebe seit 2007 in Israel und habe durch meine Arbeit im Elternheim und außerhalb des Heims viele Menschen kennengelernt, die älter sind als der Staat Israel. Manchen habe ich kurze Einträge auf Facebook gewidmet. Auch vielfachen Wunsch habe ich die Posts hier zusammengetragen.

Herr Engelberg 

(facebook post vom 9/11/17)

Herr Engelberg verbrachte seine ersten Lebensjahre in Karlsruhe. Sein Vater wurde in jungen Jahren von seiner Familie aus einem galizischen Stettl nach Basel geschickt um dort bei einem Uhrmacher zu lernen und seine Mutter wurde von ihrer Familie aus dem gleichen Stettl nach Straßburg geschickt um dort Korken zu sammeln und zu verkaufen. Die Begebenheit führte zum Arrangement von Treffen und Heirat. Als die Nazis an die Macht kamen gingen die Eheleute Engelberg mit den beiden Söhnen nach Bielsko in Polen. In der Stadt, die mehrheitlich von Deutschen bewohnt war kam es zu Anti-Jüdischen Ausschreitungen und die Eltern von Herrn Engelberg sahen sich genötigt ein Marienbild ins Fenster zu stellen um verschont zu bleiben. Danach zog die Familie nach Krakau und wohnte recht fein in der Grotzka Str. Doch dann überfielen die Deutschen am Freitag, den ersten September Polen und bombardierten Krakau. Am Samstag floh die Familie Engelberg aus der Stadt. Da die Villa von Verwandten, bei denen sie unterkommen wollten, verriegelt war, machte sich die Familie mit einem Pferdewagen auf in Richtung Lwow, wo ein Bruder des Vaters wohnte. Herr Engelberg erinnert sich wie sie einen Fluss auf einem Floss überqueren mussten. Die Engelbergs gelangten nach Zamosc, wo sie sich über einer Bäckerei eingemietet haben. Eines Morgens klopften zwei Soldaten einer deutschen Vorhut wild an ihre Tür. Voller Panik bedeutete der Vater von Herrn Engelberg seiner Mutter nicht zu reagieren. Dann hörten sie den Vermieter rufen: „Engelberg. Machen sie auf!“. Verärgert befahlen die Soldaten die Hände hoch zu nehmen und verlangten zu erfahren, warum ihnen die Tür nicht aufgemacht wurde. „Wenn ein deutscher Soldat befiehlt, zu öffnen…“ erinnert sich Herr Engelberg. Seine Mutter entschuldigte sich flehend damit, dass es dem Vater ganz arg schlecht gehe. Die Soldaten, die – wie die Engelbergs später erfuhren – in einer anderen Wohnung durch die Tür geschossen hatten, nachdem ihnen nicht aufgemacht wurde, inspizierten die Wertgegenstände der Familie und nahmen eine goldene Taschenuhr an sich. Die Familie verließ Zamosc und gelangte in das von den Sowjets besetzte Lwow. Dort lebten sie beim Bruder des Vaters, bis dessen Frau sich über die Mutter von Herrn Engelberg entzürnte, nachdem diese ein Familienbild an sich genommen hatte. Die Engelbergs beschlossen zurück nach Krakau zu gehen. Sie gelangten wieder nach Zamosc, dass Ende September für eine kurze Zeit von Sowjettruppen besetzt war. Die Familie erstand ein Zugticket nach Krakau, wurde aber von sowjetischen Soldaten gehindert nach Westen zu gehen und statt dessen nach Sibirien deportiert. Dies, so sagt Herr Engelberg, habe ihnen das Leben gerettet. Die Familie verbrachte sechs Jahre in der Sowjetunion. Bevor der Vater eine Anstellung in einer Werkstatt fand und die Familie in die Stadt Bodaybo zog lebten sie zwei Jahre in einer Hütte in einem Arbeitslager an der Lena, wo in 12 Stunden Schichten gearbeitet wurde. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion gelangte die Familie Engelsberg im Zuge der Umsiedlung von Volksdeutschen aus Saratov nach Sibirien ihrerseits von Sibirien nach Saratov. Nach dem Krieg ist die Familie vom Antisemitismus der Polen geschockt, die sich z.T. enttäuscht wundern, wie viele Juden noch am Leben sind, und beschließt auszuwandern. 1950 gelangt Herr Engelberg mit der Komemiut nach Israel. An Sibirien erinnert ihn ein Schachspiel, dass er seiner Zeit selbst geschnitzt hat.

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Mira Peer 

(facebook post vom 23/6/18)

Als sie ins Heim kam war ich Mira Per suspekt, weil ich Deutscher bin. Dann haben wir uns angefreundet, dann ging es ihr nicht gut und bevor ich die letzten beiden Male auf Vortragsreise gegangen bin, haben wir uns jeweils für immer verabschiedet. Tatsächlich hat es das Schicksal aber anders gemeint und es geht ihr zur Zeit ganz gut, wobei ihr Kurzzeitgedächtnis ihr manchen Streich spielt. So drehten sich unsere letzten Unterhaltungen immer nur um Angela Merkel. Mira hat zu mehreren Gelegenheiten erzählt, dass die Kanzlerin sie angerufen und nach Jerusalem zu einer Ausstellung eingeladen hat und gefragt, ob ich sie begleiten möchte. Ich habe ihr immer erwiedert, dass Merkel doch ins Heim kommen soll, wenn sie was will, worauf Mira dann stets entgegnete, dass dies problematisch wäre wegen der Leibwächter usw. Wir hatten das Gespräch einige Male. Bis ich heute zur Abwechslung Mal das Thema gewechselt habe und siehe da, die Erinnerungen, die mehr als 70 Jahre zurück reichen, waren um einiges schärfer als die an das letzte imaginierte nächtliche Telefonat mit der Bundeskanzlerin.

Mira ist 1929 in Czernowitz geboren. Ihr Vater Avraham, der in Frankfurt geboren ist und ihre Mutter Shulamit, die aus der Bukowina stammte, lernten sich in Wien kennen. Ihre Grossmutter Zsusi pflegte zu sagen: „Wien oh Wien nur Du allein kannst Du die Stadt meiner Träume sein“. In der Familie, die in der Flurgasse in Czernowitz wohnte, wurde Deutsch geredet und auf die Einhaltung jüdischer Tradition geachtet.

Während des Zweiten Weltkriegs waren Mira, ihr Vater, ihre Mutter und ihr jüngere Schwester und ihr jüngerer Bruder auf der Flucht von Versteck zu Versteck. Ihr Vater und ihr Bruder überlebten die Zeit nicht. Mira, die bei den Jungen Zionisten war, machte sich im November 1946 mit der Jugendgruppe Choshlei Atidim (Die Zukunftsschmiede) auf den Weg nach Palästina. Sie bestieg im jugoslawischen Bakar die „Knesset Israel“, ein illegales Flüchtlingsschiff, dass heillos überfüllt war. Mira erinnert sich, wie neun Pritschen übereinander gezimmert waren und an den Dreck und die katastrophalen sanitären Anlagen. Einzig die Hoffnung auf die neue Heimat Erez Israel ließ sie die Bedingungen der Überfahrt ertragen.

Die „Knesset Israel“ war eines der größten Schiffe die der Mossad einsetzen konnte. Tauglich gemacht wurde es von einem Team um den Palyam Kommandanten Benyamin Yerushalmi. Der Palyam war die Marine des Palmach, der paramilitärischen Elitetruppen des Yishuv. Seine Angehörigen sollten vor der Küste Palästinas mit einem kleineren Begleitschiff zurückkehren, um bei der Landung nicht in die Hände der Briten zu fallen. Die “Knesset Israel” fuhr mit 3445 Passagieren los und noch 400 auf dem Begleitschiff, die an Stelle der Palyamniks an Bord gehen sollten. Doch das Begleitschiff lief in einem Sturm auf, was die Passagierzahl auf der Knesset Israel” auf 3845 erhöhte. 11 Babys wurden auf der Überfahrt geboren.

Wenige Seemeilen vor der Küste Palästinas wurde das Schiff von einem britischen Zerstörer abgefangen. Die Flüchtlinge widersetzten sich und Mira erinnert sich wie sie und die anderen „Zukunftsschmiede“ mit Fäusten auf die britischen Soldaten losgingen und an das Tränengas, das in den Augen brannte und an die beiden Toten auf Seiten der Flüchtlinge und am die vielen Verletzten. Als Tränengas in die Räume der Babys drang orderte der Kommandant des Schiffes an, den Widerstand einzustellen. Die Flüchtlinge wurden nach Zypern gebracht, wo sie fast ein Jahr interniert waren. Ich habe die Geschichte der „Knesset Israel“ schon einmal gehört. Die inzwischen verstorbenen Miri Schönberger, Überlebende der Zwillingsexperimente, flüchtete ebenfalls mit der „Knesset Israel“ und hat gleichfalls von den Kämpfen mit den Briten, die keine Juden ins Land ließen, erzählt.

Mira gelangte nach der Internierung in Zypern nach Palästina ins Kibbutz Shoresh, rekrutierte sich für die Hagana und kämpften Befreiungskrieg.

Ich finde es immer wieder krass Hände halten zu dürfen, die für die Freiheit gekämpft haben. Und wenn Merkel demnächst Zeit hat sollte sie Mal vorbeikommen. Bessere Geschichten als am Koalitionstisch hört sie hier allemal.

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Arie Eretz

(facebook post vom 30/9/17)

1924 wurde Arie Erez als Louis Holzmann im zweiten Bezirk Wiens geboren.

Aries Kindheit wurde ein Ende bereitet, als Österreich 1938 heim ins Reich kam.

Als Vater Holzmann Ende 1939 hörte, dass ein illegaler Transport nach Palästina geplant sei, dem eine Gruppe der Jugendaliya angeschlossen werden sollte, bemühte er sich um die Aufnahme Aries in eine der zionistischen Jugendbewegungen. Er schickte ihn zunächst zur orthodox-zionistischen Bewegung Misrahi. Dort wurde Arie gefragt, ob die Familie am Shabat das Licht anschalte. Arie entgegnete, dass sie in der Familie selbstverständlich das Licht anschalte und fragte zurück, wer denn freiwillig im Dunkeln sitzen würde. Misrahi verwies ihn an die sozialistisch-zionistische Bewegung HaShomer HaTzair, die ihn ohne viele Fragen aufnahm. Um einen Platz beim Transport zu erhalten musste seine Familie dazu eine hohe Geldsumme aufbringen. Seine Mutter gab alle ihre Ersparnisse her und Arie wurde Teil einer 120köpfigen Gruppe der Jugendaliya, die dem Transport angeschlossen wurde.

Am Tag der Abreise hat sich die Gruppe der Jugendaliya in der Marc Aurel Straße getroffen. Arie verabschiedete sich von seinen Eltern und seiner Schwester. Die Eltern sah er nie wieder. Den Jugendlichen war es verboten worden, sich mit dem hebräischen Abschiedsgruß “Lehitraot” zu verabschieden, da dies zu sehr nach “Hitler ist tot” klang. Am nächsten Tag bestieg Arie in Bratislava die Uranus – ein mit Hakenkreuzfahnen geschmücktes Boot der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft.

Die Flüchtlinge hatten keine Einreisezertifikate für Palästina.
Die Briten hatten die Immigration nach Palästina durch das sogenannte Weißbuch im Mai 1939 auf ein Minimum reduziert. Zudem galten mit Kriegsbeginn jüdische Flüchtlinge aus den feindlichen Gebieten als „feindliche Ausländer“. Die Briten übten auf die Balkanländer entlang der Donau Druck aus, Flüchtlingsschiffe an der Durchfahrt zu hindern.

Der Transport zählte bei Abfahrt mehr als 1000 Flüchtlinge.
Die Reise auf der Donau Richtung Palästina drohte schon an der jugoslawischen Grenze zu Ende zu sein. Da die Umschiffung an der Donaumündung nicht gewährleistet war, weigerte sich die DDSG die Fahrt fortzusetzen. Nach gespanntem Warten wurden die Flüchtlinge dann auf drei von der jugoslawischen Schifffahrtsgesellschaft gecharterte Ausflugsboote verteilt. Die Jugendlichen, unter ihnen die Gruppe der Jugendaliya kam auf die „Car Dušan“. Die Flüchtlinge gelangten an die rumänische Grenze, wo erneut kein Weiterkommen mehr war. Rumänien weigerte sich die Flüchtlinge ins Land zu lassen. Entgegen der Beteuerungen der Flüchtlinge stand kein Schiff in der Donaumündung bereit. Schließlich verhinderte der Winter und Packeisbildung auf der der Donau die Weiterfahrt. Die Flüchtlinge wurden im Hafen der jugoslawischen Grenzstadt Kladovo festgesetzt. Erst nach Wochen, erinnert sich Arie, durften sie das erste Mal von Bord. Die Enge ist Arie noch in besonders traumatischer Erinnerung. Er erzählt, dass sie in Schichten hätten schlafen müssen und trotzdem eng aneinander. Es sei vor allem den Jugendleitern des Shomer HaTzair zu verdanken gewesen, dass sie nicht verrückt wurden. Diese hätten sie mit Geschichten über das jüdische Siedlungswerk in Palästina “bei Laune” gehalten.

Als die Flüchtlinge die Schiffe schließlich räumen mussten, errichtete die Gruppe der Jugendaliya ein Zeltlager neben Maisfeldern am Donauufer. Obwohl niemand verhungerte, litten die Flüchtlinge unter Mangel, Schmutz und Krankheiten. An den allermeisten Tagen wurde Mamaliga gegessen. Die einzigen Freuden, so sagt Arie, seien das Fußball spielen gewesen und ein Fest in der Stadt Kladovo, von dem viele junge Paare in die Maisfelder kamen, um dort zu tun “was junge Paare tun und wir haben zugeschaut”. Erst nach Monaten wurde die Reise fortgesetzt.

Im September 1940 wurden die Flüchtlinge auf einem Kohlenschlepper rund 300 Kilometer stromaufwärts nach Sabac nahe Belgrad geschickt. Die Stimmung schwankte zwischen Empörung und Verzweiflung und Apathie. Die Versorgung war indes besser als in Kladovo. Die Juden Belgrads hatten der Transportleitung sogar einige Pakete Wust geschenkt, die diese für eine evtl. spätere Notlage zurücklegen ließ und die darüber hinweg vergammelt sind. Um keinen Aufruhr zu provozieren, wurde der Shomer HaTzair angewiesen, diese eines Nachts in der Donau zu versenken.

Im März 1941, zwei Wochen vor Einmarsch der Wehrmacht in Jugoslawien, gelangten rund 200 Flüchtlinge an Einreisezertifikate für Palästina. Unter ihnen die 120 Angehörigen der Jugendaliya, die in Gruppen von 30-40 Jugendlichen mit Zügen via Griechenland, Istanbul und Aleppo bis nach Beirut und von dort nach Palästina reisten.

Die Flüchtlinge des Kladovo Transports, die in Sabac zurückblieben, wurden im April 1941 von den Deutschen eingeholt und in einem Lager interniert.
Alle Männer des Kladovo-Transports wurden Anfang Oktober 1941 zu Opfern einer „Sühneaktion“ – erschossen von der Wehrmacht als Vergeltung für einen tödlichen Angriff jugoslawischer Partisanen auf deutsche Besatzungstruppen.
An den Frauen und Kindern, so erzählt Arie, wurde das Vergasen geprobt.
Ende 1941/Anfang 1942 wurden die Frauen des Kladovo-Transports in das damals gerade gegründete KZ Sajmiste in einem Vorort von Belgrad überstellt. Ab März 1942 holten jeden Tag zwei LKW 50 bis 80 Menschen in Sajmiste ab. Auf der Fahrt durch Belgrad zum Zielort Avale wurden Abgase eingeleitet. In Avale hatte ein Häftlingskommando bereits die Gruben ausgehoben.

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