Blutsschwestern

Als Menachem Begin 1977 zum Premierminister gewählt wurde, war einer seiner ersten Aufträge an seinen Mossad-Chef: „Bringt mir unsere Brüder“, womit er die Juden in Äthiopien meinte. „Falaschen“ ist der abschätzige Begriff, den christliche Äthiopier für die Juden Äthiopiens verwenden, die sich selbst als „Beta Israel“ bezeichnen. Bis 1984 kamen über 8000 äthiopische Juden nach Israel. Der gefährliche Weg führte über temporär eingerichtete Camps an der äthiopisch-sudanesischen Grenze. Tausende verloren beim Versuch über diese Camps nach Israel zu gelangen ihr Leben.

Ende 1984 befanden sich mehrere Tausend äthiopische Juden in den sudanesischen Camps, wo ihre Lage zunehmend bedrohlicher wurde. Im November 1984 beschloss Israel eine verdeckte Militäroperation, mit dem Ziel die äthiopischen Juden aus dem Sudan nach Israel zu bringen. Unter den 8000 Juden die mit gecharterten Flugzeugen der TEA über Brüssel nach Israel ausgeflogen wurden befand sich Malkha.

Meine äthiopische Kollegin Malkha Mekoria stammt aus einem Dorf in der Region Gondar im Norden Äthiopiens. Als Juden in Äthiopien, so erzählt sie, lebten sie abgekapselt von den Muslimen und Christen. Religion und jüdische Tradition hätten ihren Alltag bestimmt. Die Regio Gondar war Jahrzehnte lang Bürgerkriegsschauplatz und wurde von 1983 bis 1985 von einer Jahrhunderthungersnot heimgesucht, die 400.000 Menschen das Leben kostete. Malkha floh in jungen Jahren mit ihrer Familie in eines der sogenannten Hungerlager im Sudan. Die Familie machte sich getrennt auf den Weg, sie selbst erreichte ihr Ziel nach mehrwöchigem Marsch. Dass sie trotz der Entbehrungen und des Elends der Flucht, der so viele zum Opfer gefallen sind, angekommen sei, sieht sie heute als wundersam an. Im Grunde habe sie die Kraft für den Weg, der von Hitze, Hunger, Durst und Übergriffen geprägt war, gar nicht gehabt. Wie alt sie bei der Flucht gewesen sei, kann sie nicht genau sagen, da sie weder ihren Geburtstag noch ihr Geburtsjahr kennt.

Malkha gelangte im Dezember 1984 nach Israel. Ihrer Familie wurde Tiberias am See Genetsareth als Wohnort zugewiesen. Heute ist Malkha geschiedene Mutter von vier Kindern und lebt im Landesinneren. Sie arbeitet bis zu 50 Wochenstunden im Schichtdienst auf der Pflegestation des Heims und hat noch eine weitere Arbeit. Die Anzahl der Äthiopier, die als ungelernte Arbeiter ihr Geld verdienen, liegt weit über dem israelischen Durchschnitt. 1/3 der israelischen Frauen äthiopischer Herkunft sind als ungelernte Arbeiter beschäftigt (vgl. israelischer Durchschnitt: 4%).

Als Israelin äthiopischer Herkunft sieht sie sich von der israelischen Mehrheitsgesellschaft oft an den Rand gedrängt. Eine weißrussische Kollegin auf einer früheren Arbeitsstelle habe ihr einmal erklärt, dass die Äthiopier anerkennen müssten, dass sie keine Kultur hätten. Malkha ist sich sicher, dass die meisten Israelis diese Einschätzung teilen. Ob sie es aussprechen würden oder nicht. Malkha freut sich für die äthiopischen Frauen, die es in Israel trotz aller Widerstände schaffen.
Als Tehunia Rubel die israelische Ausgabe von Big Brother gewann, war sie stolz. Auch als Titi Aynaw zur Miss Israel gekürt wurde.
Stolz ist sie auch auf Pnina Tamano-Shata, die erste äthiopische Abgeordnete in der Knesset.

Malkha sagt, dass sie kein Problem damit habe, wenn ihre Kinder irgendwann orientalischen oder sogar ashkenasische Juden heiraten. Hauptsache Juden.

Malkha ist eine von vier äthiopischen Pflegehelferinnen im Heim. Ihr hausgemachtes Injera mit hausgemachter scharfer Linsenpaste oder einer anderen scharfen Paste und ihr selbst gebackenes Dabo gehören zu den absoluten kulinarischen Highlights in Israel.

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Als ich noch im Krankenhaus gearbeitet habe, hatte ich einen äthiopischen Kollegen, Gil, der mit seiner Familie während der Hungersnot in den Sudan floh. Es sei eine elende Flucht gewesen, erinnert sich Gil mit Grauen. Auf dem gewaltigen Fußweg blieben immer wieder Menschen entkräftet zurück um in der Wüste zu sterben.

Seine Eltern, die getrennt von ihm aufbrachen, wurden zu Opfern der Strapazen und verstarben auf dem Weg.

Gil erinnert sich an viele gewaltsame Übergriffe, sowohl im kommunistischen Äthiopien als auch im islamistischen Sudan. Er selbst kann sich schmerzhaft an die Prügel erinnern, die er von sudanesischen Sicherheitskräften einstecken musste.

Die Operation Moses, mit der das israelische Militär die äthiopischen Juden mit gecharterten belgischen Maschinen aus dem Sudan flog, wurde aufgedeckt und gestoppt, bevor sie komplett war. Auf Druck der arabischen Welt entzog der Sudan der belgischen Fluggesellschaft die Landeerlaubnis.
Ca. 1000 Juden verblieben im Sudan. Gil hatte sich als Waise in Khartum durchzuschlagen. Monate später flog das amerikanische Militär in der Operation Joshua Hunderte äthiopischer Juden aus. Unter ihnen Gil.

Israel sei ein Kulturschock gewesen, sagt Gil. Lange hätte er sich weiße Juden gar nicht vorstellen können. Mit dem Leben in Israel, wo alles anders geregelt sei als in Äthiopien, sei er lange nicht zurechtgekommen. Auch heute fühlt er sich in den illegalen Bars im Süden von Tel Aviv, wo hauptsächlich eritreische Flüchtlinge verkehren, wohler als in den israelischen Cafés.

Gil wurde bald nach seiner Ankunft für das Militär eingezogen und 2000 als Reservist bei der Al-Aksa Intifada im Gaza eingesetzt. Er erinnert sich, wie drei Soldaten aus seiner Kompanie bei den Kämpfen gefallen sind.

Meine Kollegin Sahavit entstammt einer kinderreichen Familie aus der Region Gondar. Sie wisse von neun Geschwistern, sagt sie. Zwei Brüder kamen mit der Operation Moses nach Israel. Nach und nach gelangten ihre weiteren Brüder und Schwestern, ihre Eltern und sie selbst nach Israel. Die kommunistischen Machthaber erlaubten eine limitierte Zahl von Auswanderungen pro Monat für diejenigen, die Familie in Israel nachweisen konnten. Eine Schwester von Sahavit verstarb in Addis Abeba, auf dem Weg ins gelobte Land. Sahavit kam 1990 in den jüdischen Staat, von dem sie oft geträumt hatte. Sahavit ist sehr traditionsverbunden und gläubig. Nach dem Tod ihrer Mutter trug sie ein Jahr lang ein Kopftuch. Sie ist Mutter von fünf Kindern. Sie versteht nicht, warum es in Israel Paare gibt, die nur zwei oder ein Kind haben.

Was Sahavit an Israel stört, ist der fehlende Gemeinschaftssinn der Juden. In Äthiopien so sagt sie habe es einen starken Zusammenhalt unter den Juden gegeben. Der Shabat und die jüdischen Feiertage seien strikt eingehalten worden. In vielfacher Weise sei ihr Leben in Äthiopien viel jüdischer gewesen.

Malkha (l.) und Sahavit (r.)
Malkha (l.) und Sahavit (r.)

Israel erkaufte sich die Kooperation der kommunistischen Machthaber mit Waffenlieferungen. Je mehr das Regime in Addis Abeba in Bedrängnis kamen, desto erpresserischer wurden die Forderungen. Die Ausreise nach Israel kam zum Erliegen. Ausreisewillige Juden strandeten in Addis Abeba auf dem Gelände der israelischen Botschaft.

Meine Kollegin Pnina Mamo stammt aus einem Dorf in der Region Gondar, in dem Christen, Muslime und Juden strikt voneinander getrennt lebten. Niemals hatten sich Juden mit Nicht-Juden an einen Tisch gesetzt, versichert Pnina. Auch hätten Christen, Muslime und Juden einander keine zubereiteten Speisen gegeben oder voneinander angenommen. Zur Geburt oder Hochzeit im Dorf habe die jüdische Dorfgemeinschaft gesammelt – jeder habe nach seinen Möglichkeiten gegeben – und dies der christlichen oder muslimischen Familie überbringen lassen. Ohne an der Feier teilzunehmen. In der strikt nach außen abgeschlossenen jüdischen Gemeinschaft galt das Wort des Rabbiners.
Pninas Vater hatte gewaltige Felder, auf denen er Teff, Weizen, Hopfen und Mais anbaute und deren Überschuss ihre Familie verkaufte. Zur Ernte mussten sie Saisonarbeiter anstellen. Zudem hätten sie Kühe und Ziegen gehalten. Außerdem sagt sie hatten sie einen großen Garten gehabt, aus dem sie sich selbst mit Obst, Knoblauch und Kaffee versorgen konnten. Ihr Vater war ein exzellenter Landwirt und sei oft um Rat angefragt worden. Eines seiner Erfolgsrezepte sei gewesen, mit den Ausscheidungen der Kühe und Ziegen zu düngen. Pnina erinnert sich an die Papayas, Bananen und Mandarinen, die ihr Vater angebaut hatte und deren Ertrag er nie verkaufte, sondern immer an Kranke und Bedürftige verteilte. Wann immer jemand in Not gekommen sei, habe ihr Vater geholfen, versichert Pnina. Überhaupt hätten die Juden einer für den Anderen eingestanden. Am Sigd Feiertag, einem einzigartigen Fasten- und Gebetstag der äthiopischen Juden, wurde die Sehnsucht nach Jerusalem zum Ausdruck gebracht.

Im Februar 1991 lies die Familie alles zurück und begab sich nach Addis Abeba, um von dort nach Israel zu gelangen. Pnina war 16 Jahre alt und Mutter einer einjährigen Tochter. Tausende ausreisewillige Juden prangten sich bereits auf dem Gelände der israelischen Botschaft und in deren Nähe. Pnina Familie mietete eine Wohnung und wartete.
Als die Rebellen Addis Abeba einkesselten und die kommunistische Regierung ins Ausland floh, nutzte Israel das Machtvakuum und führte an einem Shabat die Militäroperation Salomon durch. Bei der streng geheim gehaltenen Luftbrücke wurden in 36 Stunden mehr als 14.000 äthiopische Juden nach Israel ausgeflogen.

Am 24. Mai wurde der 25 Jahrestag der Operation gefeiert.

Pnina erinnert sich, wie sie plötzlich Bescheid bekamen, alles zurückzulassen und mitzukommen.

An der Operation Salomon waren 25 Zahal Militärmaschinen und zehn zivile El Al Flugzeuge beteiligt. Diese waren nur mit Matratzen ausgelegt, um möglichst viele Menschen zu fassen. Nach 41 Flügen war die Operation abgeschlossen. Pnina befand sich auf einem Flug, der bis heute einen Weltrekord hält. In einen Jumbo Jet wurden 1135 Beta Israel gepackt. Nach der Geburt von Zwillingen während des Flugs kamen 1137 Beta Israel in Israel an. Pnina wurde vom Flughafen weg nach Kadouri nahe Kfar Tavor gebracht.
[Dort wohnt sie drei Jahre in einer Containersiedlung, die in Sichtweite des beduinischen Dorfes Shibli lag. Weil Israel ein kleines Land ist arbeitet sie heute mit Mudi Shibli aus jenem Dorf zusammen im Heim. Und mit Ruti Samir, die nach ihrer Flucht aus dem Irak vor mehr als 60 Jahren ebenfalls nach Kadouri beordert wurde.]
1994 zog Pnina in die jüdisch-arabische Stadt Ramle. Heute ist sie fünffache Mutter und arbeitet im Heim bis zu 60 Stunden in der Woche. Während ihre jüngste Tochter noch in den Kindergarten geht, wohnte sie jüngst der Auszeichnung ihres zweitältesten Sohnes bei der Armee bei.

Als sich Israel Anfang Mai letzten Jahres von den heftigen Protesten äthiopischer Juden in Jerusalem und Tel Aviv überrascht sah, hing sie am Fernsehgerät und hielt flammende Appelle an die Protestierenden ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Sie hätten viel zu viel Diskriminierung geschluckt sagt sie. Auslöser der Proteste war ein Video, das zeigt, wie der Soldat Damas Pakoda von Polizisten grundlos angegriffen wird. Der Übergriff veranschauliche wie die Äthiopier in Israel behandelt würden, sagte sie immer wieder.
Pnina ist der israelischen Gesellschaft gegenüber sehr misstrauisch eingestellt. Nicht-religiöse Juden passen nicht in ihr Weltbild und verwirren sie. Palästinensischen Arabern gegenüber ist sie feindlich eingestellt.

“Es sei ein Fehler gewesen, zu flüchten” sagt sie, wenn sie sich an ihr Leben in Äthiopien erinnert.

Sahavit geht die Geschichte von Adissu Massala nicht aus dem Kopf. Massala kam 1980 nach Israel und wurde 1996 der erste Abgeordnete äthiopischer Abstammung in der Knesset. 1999 verlor er seinen Sitz an Sofa Landver und kehrte verbittert nach Äthiopien zurück, wo er allem Anschein nach ein gutes Leben hat.

Dr. Jacob Weinstein von der Jewish Agency, der nach der Gründung Israels die Auswanderung der jemenitischen Juden in den jüdischen Staat ausgehandelt hatte, besuchte 1950 Äthiopien. Er berichtete der Gewerkschaftszeitung Davar, dass die alte jüdischen Gemeinde in Äthiopien ein großes Interesse an der im Entstehen des Staat Israels gezeigt hatte. So hätten die Juden Äthiopiens 48 Stunden gefastet, als sie hörten, dass das Land im Krieg mit seinen arabischen Nachbarn war. Hunderte kamen aus ihren Dörfern in die Hauptstadt um nach Wegen zu suchen, Israel im Krieg zu unterstützen.

In der israelischen Gesellschaft fiel die Sehnsucht der äthiopischen Juden nach Rückkehr derweil auf taube Ohren

1959 schrieb der Reporter Yuval Elitzur, die für die Zeitung Ma’ariv aus Äthiopien, dass es eine Vogel-Strauß-Politik sei, die Hautfarbe der äthiopischen Juden zu ignorieren. Auch wenn sich die Israels nicht wie die Weißen in Südafrika oder im Süden der USA verhalten würden, müsse doch bedacht werden, dass die Rückführung aller ‚Falashas‘ nach Israel in kurzer Zeit ein Rassenproblem schaffen würde, das hart zu überwinden sein würde.

Da Äthiopien die Ausreise der Beta Israel nicht erlaubte, hatte die Sorge vor einer rassistische Reaktion auf deren Einwanderung zunächst keine Relevanz.

Neben dem Ausreiseverbot stand den Beta Israel noch eine weitere Hürde im Weg. Die israelischen Rabbinate erkannten sie nicht als Juden nach der Halacha an.

Schließlich war es der (viel gescholtene) sephardische Oberrabbiner Ovadia Joseph, der bestimmte, dass die Beta Israel Juden nach der Halacha seinen. 1977 befahl Menachem Begin ihre Rückführung in den jüdischen Staat.

Wie die Luftbrücken Moses und Salomon israelische Erfolgsgeschichten sind, müssen strukturelle Diskriminierung der Israelis äthiopischer Herkunft und der gegen die schwarzen Juden gerichtete Rassismus in Teilen der Gesellschaft als deren dunkle Kehrseite gelten. Shmuel Schnitzer schrieb 1994 in dem Artikel “Import von Blut” von „Tausenden von Glaubensabtrünnigen“, die „gefährliche Krankheiten“ bringen.

Nachdem ein Wohnprojekt in Kiriat Malakhi Äthiopier dezidiert als Käufer ausschloss kam es schon 2012 zu Unruhen, die in einem Protestmarsch auf Jerusalem mündeten. Sofa Landver meinte dazu, dass die Äthiopier satt lautstark zu protestieren, dankbar sein sollten, dass man sie nach Israel gebracht habe. Als Einwanderungsministerin war sie in der Zeit für massive Streichungen bei Sozialleistungen verantwortlich, die v.a. äthiopische Einwanderer betrafen.

Ein 2012 veröffentlichter Kommissionsbericht zeichnet ein Bild der Chancenungleichheit hinsichtlich der Äthiopier in Israel. Ein Bild einer Gemeinschaft, die jung ist (40% sind unter 18 Jahren) und vor scheinbar unüberwindbaren Hürden steht. In der Armee sind sie ihren Brüdern gleichgestellt (und tatsächlich liegt die Rekrutierung äthiopischer Juden für die Kampftruppen über dem Durchschnitt). Auf dem israelischen Arbeitsmarkt aber verdienen Äthiopier halb so viel und sind doppelt so oft ohne feste Anstellung. Nach einer Myers-JDC-Brookdale Studie lebten 2013 39% der Familien äthiopischer Einwanderer in Armut (vgl. israelischer Durchschnitt: 14%). Im Sommer letzten Jahres skandierten die Demonstranten in Tel Aviv und Jerusalem: „Unser Blut ist gut genug für den Krieg in Gaza, aber nicht gut genug für zu Hause.“

Pnina Tamano-Shata verlangte 2013 eine Antwort auf die Frage, warum MADA (das israelische Pendant zum Roten Kreuz) Blutspenden von Äthiopiern nicht akzeptiere. Sie selbst wurde zurückgewiesen, als sie bei einer Blutspendenaktion von MADA vor dem Parlamentsgebäude teilnehmen wollte. Die Zurückweisung der potentiellen Blutspenderin schloss an eines der dunkelsten Kapitel des Staates Israel an, der immer noch schwer auf dem Gemüt der äthiopischen Gemeinschaft lastet. Im Januar 1996 wurde bekannt, dass Blutspenden von Israelis äthiopischer Herkunft im Geheimen ausgeschüttet wurden.

Text: Oliver Vrankovic