Lillit

Lilit und ich
Lillit und ich

 

Man riss meine Wurzeln
aus dem Land meiner Geburt
Ich verpflanzte sie stolz
ins Land unsrer alten Geschichte
Ich wuchs
und stand fest
und bin Element
Ich reiste in ferne Länder
und sehnte mich nun
nach der neuen Heimat
Nur manchmal in Liedern
spürte ich Sehnsucht
nach Vergangenheit
die ich vergessen wollte
[…]
(“Vergessene Kindheit”, Lillit Pavell)

Lotte ging in Stettin auf das Auguste Victoria Gymnasium und studierte später an der Universität Musik, Philosophie und Kunst. Außerdem war sie Mitglied der Bewegung “Junge Zionisten”. Sie ist 1933 nach Israel ausgewandert ohne ihr Studium zu beenden. Ihr Mann, der Architekt Heinz Pavell, wie sie überzeugter Zionist, hatte in der jungen Stadt Tel Aviv eine Anstellung in Aussicht. Das Schiff der Beiden ging von Marseille. In Palästina benannten sich die Beiden in Hanan und Lillit um. Sie habe mit ihrem Mann schon lange den Gedanken getragen, am Neuanfang in Erez Israel mitzuwirken, erzählte Lillit. Den letzten Anstoß für den Schritt habe ihr ein junger zionistischer Rabbiner aus Frankfurt gegeben, den die Jungen Zionisten nach Stettin geladen hatten. Und die Machtergreifung der Nazis.

Mit der fünften Aliya fanden sich im Yishuv plötzlich – entsprechend einem Witz – neben Einwanderern aus Überzeugung auch solche aus Deutschland.
Lillit Pavell hat sich stets geärgert, wenn den deutschen Einwanderern generell die richtige zionistische Gesinnung abgesprochen wurde. Sie und ihr Mann seinen aus Überzeugung UND aus Deutschland gekommen, betonte sie.

Der Wechsel von der deutschen in die eretz-israelische Heimat war fuer Lillit weder eine Fortsetzung noch ein totaler Bruch. Vielmehr war es ein Prozess von Negation und Affirmation.
In seinem Elternhaus sei Deutsch gesprochen und Schlafstunde eingehalten worden, erzählt ihr Sohn Dan, der 1938 geboren ist. Erst als er in die Schule gegangen sei, hätten seine Eltern angefangen, sich mit ihm auf Hebräisch zu unterhalten.
Er erinnert sich, wie seine Eltern nach der Schlafstunde oft Besuch bekamen und sich mit den Besuchern dann meist auf Deutsch unterhielten.

Über die Gäste im Haus Pavell wurden Bücher geschrieben. Von den im Architekturschinken “Sie legten den Grundstein” porträtierten deutschsprachigen jüdischen Architekten in Palästina verkehrten die Meisten im Haus der Pavells.
Seit den 1920er Jahren und insbesondere seit der Machtübernahme 1933 und den Nürnberger Rassengesetzen wanderten mehr als 130 jüdische Architekten, die mit dem modernen internationalen Stil vertraut waren, nach Palästina aus.
Lillit meinte, dass der Yishuv trotz der einsetzenden Masseneinwanderung noch übersichtlich gewesen sei und die jungen Architekten sich gefunden hätten, weil sie die gleichen Interessen und auch Ideale gehabt hätten. Anliegen der Architekten war die im Zionismus angestrebte neue und bessere Form des Zusammenlebens in einem neuen Baustil umzusetzen. Ihr Stil taugte zum Neubeginn, den gerade die Pioniere der zweiten und dritten Aliya vor Augen hatten.

Richard Kauffmann war oft Gast im Haus von Hannan und Lillit Pavell. Bekant wurde er mit der spektakulären Umsetzung des ersten Arbeitermushav Nahal als Oval auf einem Hügel. Der bedeutende Architekt, Siedlungs- und Stadtplaner war Leiter der Zentralstelle für Zionistische Beisiedlungsangelegenheiten am Palästinaamt der Zionistischen Weltorganisation. Das Amt wurde von Arthur Ruppin geleitet, einem 1908 aus Deutschland eingewanderten Zionisten. Ruppin sowohl einer der Wegbereiter für die Gründung der ersten Kollektivsiedlungen und Genossenschaftsdörfer, als auch einer der Gründungsväter der Stadt Tel Aviv. Als junge Zionistin habe sie zu Ruppin aufgeschaut, erzählte Frau Pavell. Stolz erzählte sie, dass die Enkelin von Ruppin eine Zeit lang bei ihnen zur Untermiete lebte.

Lotte Cohn, die wie Richard Kauffmann viel bei den Pavells verkehrte, war eine Vertreterin der bedingungslosen Moderne und wirkte maßgeblich an der Schaffung von Mittelstandsiedlungen für die deutsch-jüdischen Einwanderer, die ab 1933 ins Land kamen, mit. Lotte Cohn und Hanan Pavell arbeiten zusammen bei der Erweiterung des Jugenddorfes Ben Shemen.

Der legendäre Architekt Arieh Sharon, der das Diplom Nummer 6 am Bauhaus Dessau erhielt war in seinem Schaffen sehr vom zweiten Direktor des Bauhaus, Hans Mayer, beeinflusst. Sharon kam 1920 nach Palästina, ging 1926 zum Studium nach Deutschland und arbeite danach eine Zeit lang im Büro von Hans Mayer. Als er zurück nach Palaestina kam, lies er sich in Tel Aviv nieder und machte sich daran, die Entwicklung der Stadt den Grundsätzen moderner Architektur zu unterwerfen und sie so zu einer modernen Großstadt zu machen. Funktionell gestaltet und mit avantgardistischen Bauten. Lillit erinnerte sich, dass Arieh Sharon ein sehr netter Mann gewesen sei.

Als sie 102 Jahre alt war, antwortete Lillit auf die Frage, wie es sich anfühle, so alt zu sein, mit einem zahnlosen Lächeln. “Die ersten 100 Jahre” so sagte sie, sei es gut gegangen, dann aber sei es schwer geworden. Dabei verteidigte sie bis ins Alter von 104 im Rollstuhl sitzend ihre Selbstständigkeit, wo es ging. Mit einem augenscheinlichen Kraftakt bewältigte sie den täglichen Weg in den Speisesaal. Dort lies sie das Essen des Heims manches Mal stehen. In ihren letzten Jahren ernährte sie sich hauptsächlich von Waffelschnitten und Schokolade. Wer sich zu ihr gesellte konnte Geschichte nacherleben. Etwa den Unabhängigkeitstag, als Lillit und ihr Mann Hannan inmitten einer ausgelassenen Menschenmenge auf den Straßen tanzten. Es sei einer der schönsten Tage ihres Lebens gewesen, sagte Lillit.

Nach der Staatsgründung wurde eine Abteilung für Landesplanung geschaffen, mit dessen Leitung Arieh Sharon beauftragt wurde. Das Landesplanungsamt sollte den Strom von Flüchtlingen bewältigen. Der Mann von Frau Pavell fand eine Anstellung bei der Abteilung für Landesplanung und blieb als Stadtplaner im israelischen Staatsapparat.

Der inzwischen verstorbene Arie Kindler, ein langjähriger Bewohner des Heims, kannte die Pavells aus frühen Jahren. „Mit dem Heinz“, so erzählte Arie, habe er im Ausschuss, der das Aussehen der israelischen Münzen festlegte, gesessen.

Der Heinz hat in Israel Karriere als Stadtplaner gemacht. Lotte selbst hat ihr Leben der Musik und der Lyrik gewidmet.

Zu den letzten Erinnerungen von Lillit Pavell gehörten die kammermusikalischen Abende, die in ihrem Salon stattfanden. Musik galt als Herzstück der Kultur, auf deren Pflege die deutschen Einwanderer viel wert legten. Mit sichtbarer Leidenschaft erzählte Lillit vom Zustandekommen und Ablauf solcher Abende und der Hingabe an die Musik. Alle deutschen Musiker in der Stadt hätten sich untereinander gekannt und zu Trios und Quartetten zusammengeschlossen. Ihr Salon hätte dabei eine besondere Bedeutung gehabt, da sie ein Klavier besaß.

Man hat sich viel verbessert an diesen Abenden, sagte Lillit Pavell über die legendären kammermusikalischen Zusammenkünfte der Jekkes. Sie sagte, dass sie regelmäßig mit den gleichen Leuten gespielt habe. So ein Ensemble müsse einander vertraut werden, erklärte sie mir, und sich aufeinander einspielen.
Sie hätten sich an bestimmten Tagen um Acht bei ihr getroffen, erinnerte sie sich lebhaft. Wenn einmal ein Arrangement festgelegt wurde, sagte sie, seien kurzfristige Änderungen sehr schwierig gewesen, da nur wenige ein Telefon besessen hätten. Gleichwohl sei üblich gewesen, irgendwo einzuspringen oder sich zu vertreten. Es sei alles so selbstverständlich gewesen, wie die Luft, die sie geatmet habe, versuchte sie zu beschreiben. In dem Kreis der Kammermusiker wurden auch Informationen zu möglichen bezahlten Gelegenheitsengagements austauscht.

Wenn mir Lillit Pavell den unterschiedlichen Charakter kammermusikalischer Werke von Mozart und Beethoven beschrieb, oder mir die Klavierquartette von Brahms erläuterte, schien alle Demenz verflogen.
Eines Abends vor einigen Jahren gerieten Lillit Pavell und eine Tischnachbarin zu meinem Erstaunen eines Nachmittags in eine Meinungsverschiedenheit über das Werk des Komponisten Gustav Mahler. Am gleichen Abend rätselten beide, wie sie vom Speisesaal „nach Hause“ kämen.

Lillit hatte sich über die Kammermusik hinaus für das erste Orchester in Tel Aviv engagiert. Dazu gehörte, die Masse an Neuankömmlingen aus Europa stets auf bekannte Musiker zu sichten. Wenn die Einreise eines bekannten Dirigenten oder Instrumentalisten anstand, wurde auf dessen Eingliederung in den Musikbetrieb hingewirkt. Unter den Musikliebhabern jener Zeit sorgte solch eine Ankunft stets für Aufregung.
Schon bevor Lillit selbst ins Elternheims gezogen ist, hat sie dort musiktheoretische Vorträge gehalten. Zu ihrem 99.Geburtstag hat Dan besonderes Fingerspitzengefühl bewiesen und seiner Mutter eine Pianistin engagiert, die in den Abendstunden für sie und die Familie im Kultursaal ein Klavierkonzert gegeben hat.

Als sie ins Heim zog, vermachte sie ihr Klavier der Pflegestation, auf der sie die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte.

Eine ihrer liebsten Annekdoten handelten von Ze’ev Steinberg, den sie auf einer Fahrt im Sammeltaxi nach Haifa kennenlernte. Ze’ev war der Fahrer, der während der Fahrt Einträge auf ein Notenblatt machte. Fasziniert lud ihn Lillit ein, sich ihrem Kammermusik Quartett anzuschließen, in dem ein Platz frei geworden war. Ze’ev wurde später einer der bedeutendsten Violinisten des philharmonischen Orchesters.

Die kammermusikalischen Abende, erinnert sich Dan, erschienen in ihrer Häuslichkeit wie eine Brücke in eine andere Welt. Dabei dachten Lillit und ihr Mann nie daran, tatsächlich nach Deutschland zurückzukehren. Ihre komplexen Gefühle hinsichtlich ihrer alten und neuen Heimat hatte Lillit in bemerkenswerten Gedichten verarbeitet, die derzeit Gegenstand akademischer Betrachtung sind. Es sei ihr lange unmöglich gewesen, Gedichte auf Deutsch zu verfassen, gab Lillit einmal zu. Ihr erstes deutsches Gedicht hieß ”Vergessene Kindheit”.
Zu den fernen Ländern, die sie in ihrem Gedicht erwähnt, gehört Äthiopien, wohin ihr Mann als Stadtplaner geschickt wurde und wo sie einige Jahre lebte. Sie hat die Zeit in dem afrikanischen Land in guter Erinnerung.

Ihr literarisches Werk findet sich in der gut sortierten deutschsprachigen Bibliothek des Heims neben den gesammelten Werken der kanonisierten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Wenige Tage nach ihrem 104 Geburtstag ist Lillit Pavell verstorben. Geehrt sei ihr Andenken.

Text: Oliver Vrankovic