Von der Unverzichtbarkeit der Utopie

Ein Gastbeitrag von Oscar Borkowsky. Erstveröffentlichung in der i-Punkt 7/2009 – Informationsdienst des ABA Fachverbandes (Juli 2009)

Von der Unverzichtbarkeit der Utopie

– Überlegungen jenseits des gängigen Geschmacks –

„Wenn es eine Theorie gibt, wird sie nach der Praxis gemacht … aber die Praxis selbst umfasst ein Denken. Das Wesentliche ist die Tat, aber die Tat selbst ist von einem Denken untermauert.“

Jean Paul Sartre, Der Intellektuelle als Revolutionär

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Naturgemäß ist die Umsetzung von Theorie in Praxis ein äußerst schwieriges Unterfangen, das wohl nur dann gelingt, wenn einerseits die Theorie die Praxis dabei kritisch begleitet und andererseits die Praxis bereits eine verlässliche theoretische Grundlage hat. Kurioserweise könnte man hier sogar von der Kulturindustrie lernen, wenn man weiß, wie diese funktioniert – obgleich deren Zielsetzung ihrem Wesen nach antiemanzipatorisch ist. Betrachtet man unter diesem Aspekt die Jugend(kultur)arbeit, so gelangt man zu durchaus interessanten Ansätzen.

    „Kritisch-emanzipatorischer Ansatz“

„Jugend(kultur)arbeit ist weit mehr als nur ‚Geschmackssache’!“ Mit dieser simplen, gleichwohl zutreffenden Feststellung leitete Oliver Vrankovic vor nunmehr vier Jahren das Kapitel „Kritisch-emanzipatorischer Ansatz“ seines Aufsatzes „Protreff-Adorno-Nische“ ein und verwies auf die Selbstverständlichkeit der Methode von „Konfrontation und Kritik“ innerhalb der Praxis der Jugend(kultur)arbeit. Damit eine solche Methode in besagter Praxis greifen kann, „braucht die Soziale Arbeit auf dem Feld der Jugend(kultur)arbeit eine spezifisch sozialwissenschaftliche Verortung.“ Für Vrankovic war dabei klar, dass der „einzig legitime theoretische Unterbau hierfür (…) ein aus der Kritischen Theorie hergeleiteter kritisch-emanzipatorischer Ansatz (ist)“, und er führte weiter aus: „Die ‚Kritische Theorie’ liefert für die Jugend(kultur)arbeit wichtige Reflexionsgrundlagen. Sie bezieht ihren Ansatz auf die materialistische Kulturkritik von Marx. Diese interpretiert kulturelles Bewusstsein vor dem Hintergrund ökonomischer Verhältnisse.“ Allerdings erklärt, wie Vrankovic betonte, „die ‚Kritische Theorie’ dabei das kulturelle Bewusstsein nicht als direktes Abbild der ökonomischen Verhältnisse“; sie reflektiere vielmehr jene den „kulturellen Dokumenten“ eingeschriebene Ideologie (also das falsche Bewusstsein im Sinne von systematisch präfabrizierten Deutungsmustern und Weltbildern), welche gleichsam unbewusst ein „gesellschaftliches Selbstverständnis“ formt. Was bedeutet nun diese abstrakte Grundlegung für die konkrete Soziale Arbeit auf dem Felde der Jugend(kultur)arbeit?

Vrankovic rekurriert hierbei – was heute, also nach dem Zusammenfallen der Postmoderne (Jean-Francois Lyotard et al.) mit dem „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama), leider selten geworden ist – in der Hauptsache auf Theodor W. Adorno und das Kapitel „Kulturindustrie“ der (zusammen mit Max Horkheimer verfassten) „Dialektik der Aufklärung“ aus dem Jahre 1947. Dort steht zu lesen: „Der Gesamteffekt der Kulturindustrie ist der einer Anti-Aufklärung; in ihr wird […] Aufklärung, nämlich die fortschreitende technische Naturbeherrschung, zum Massenbetrug, zum Mittel der Fesselung des Bewusstseins. Sie verhindert die Bildung autonomer, selbstständiger, bewusst urteilender und sich entscheidender Individuen“. Noch elf Jahre zuvor war Walter Benjamin in seinem kulturtheoretischen Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ davon überzeugt, dass die Massenkunst in Form der positiven Aufhebung gesellschaftlicher Widersprüche tendenziell die Möglichkeit einer Emanzipation der Gesellschaft bedeute: „Die Ausrichtung der Realität auf die Massen und der Massen auf sie ist ein Vorgang von unbegrenzter Tragweite sowohl für das Denken wie für die Anschauung.“ Als Resultat daraus ergab sich nach Benjamin (dargestellt am Beispiel des Films) eine genuin demokratische Partizipation: „Im Kino fallen kritische und genießende Haltung des Publikums zusammen. Und zwar ist der entscheidende Umstand dabei: nirgends mehr als im Kino erweisen sich die Reaktionen der Einzelnen, deren Summe die massive Reaktion des Publikums ausmacht, von vornherein durch ihre unmittelbar bevorstehende Massierung bedingt. Und indem sie sich kundgeben, kontrollieren sie sich.“ Ein klassisches utopisches Konzept also. Die Kritische Theorie hingegen sah das später etwas pessimistischer: „In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems sich immer dichter zusammenschließt.“ Und man ging sogar noch weiter: „Der Faschismus aber hofft darauf, die von der Kulturindustrie trainierten Gabenempfänger in seine reguläre Zwangsgefolgschaft umzuorganisieren.“

Allerdings kritisiert Vankrovic die „Verkürzung des Begriffs ‚Kultur’ in der Kulturindustrietheorie“, die „auf der Ausklammerung der kulturellen Lebenspraxis“ beruhe: „Im Kulturindustriekapitel rangieren die Menschen abstrakt unter der Masse einer manipulierbaren Konsumentenherde.“ Nun kann man „die passive Objektivität, die Adorno und Horkheimer der Masse der Rezipienten zuweisen,“ im Hinblick auf Jugendliche und deren Entwürfe diverser Lebensstile zunächst einmal hinterfragen, wie etwa der von Vrankovic zitierte Soziologe Christof Meueler 1997 in einem Aufsatz für das „Kursbuch Jugendkultur“: „Meueler sieht Stil als Ergebnis des aktiven Umgangs mit den Produkten der Kulturindustrie an. Im Konsum der Distinktionsgüter sind die Jugendlichen danach nicht als Objekte der Manipulation zu sehen, sondern werden als Subjekte stilbildend tätig.“ Nun gut. Nur: Wäre dem wirklich so, würde es insonderheit die Kulturindustrie freuen. So meldet denn Vrankovic ein großes Aber an: „Die Fokussierung auf stilbildende Subjektivität birgt auch eine große Gefahr: Die Betrachtung von Stil und Lebensstil ist zu sehr auf kulturelle Motive zentriert und blendet soziale sowie ökonomische Determinanten tendenziell aus. Das emanzipatorische Potenzial kann sich nur auf symbolischer Ebene entfalten.“

Und genau das ist das Problem: Sieht man den Sachverhalt auf diese Weise, so dürfte jeder ans Konsumistische angepasste, also vorwiegend affirmative Ansatz sich in der weiten Leere (beziehungsweise leeren Weite) der symbolischen Ebene verlaufen, auch wenn die angeblich „subversive“ Kraft der „stilbildenden Subjekte“ noch so oft beschworen wird. Es ist nämlich ein weit verbreiteter Irrglaube, die Verhältnisse würden bereits objektiv zum Besseren dann sich ändern, wenn man sie nur anders anschaut; oder wenn man selbst – als Subjekt und in Anpassung ans jeweils Modische der symbolischen Ebene – nur besser aussieht. Adorno bemerkte seinerzeit: „Die Möglichkeit ist allein … anstelle der blinden Anpassung die sich selbst durchsichtige Konzession zu setzen dort, wo das unausweichlich ist, und auf jeden Fall anzugehen gegen das verschlampte Bewusstsein. Das Individuum, würde ich sagen, überlebt heute nur als Kraftzentrum des Widerstands.“ Eine skeptische Utopie – gewandet in den Konjunktiv.

Daneben gibt es bekanntlich eine ins Optimistische gelenkte, quasi positivistische Sicht der Dinge (in fragwürdiger Anlehnung an den Sozialphilosophen und ehemaligen Adorno-Assistenten Jürgen Habermas und dessen Konzept der „Lebenswelt“ aus seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“) wie etwa die des verstorbenen Jugendforschers Dieter Baake; dieser „frohlockt“ (so Vrankovic) „1999 im Vorwort zur Neuauflage von ‚Jugend und Jugendkulturen’, dass ‚Jugendkulturen weiterhin eine kulturelle Produktivkraft darstellen, die trotz der Amalgamierung mit Medien und Kommerz erheblich ist und zweierlei leistet: auf der personal-individuellen Ebene die Subjektwerdung des heranwachsenden Menschen, und auf der ästhetisch-gesellschaftlichen Ebene die fortschreitende Auflösung kultureller Hegemonien, die auch als Demokratisierungsgewinn gedeutet werden kann’.“

Ein schönes, nichtsdestoweniger bizarres Beispiel dafür, wie der Wunsch zum Vater eines Gedankens wird, der den spätkapitalistischen Verwertungszwang offensichtlich an einer entscheidenden Stelle ignoriert, nämlich an der seiner Publizität; eben erwähnter Habermas verwies noch vor über einem Jahrzehnt auf „den Strukturwandel dieser bürgerlichen Öffentlichkeit zu einer von elektronischen Massenmedien beherrschten, semantisch degenerierten, von Bildern und virtuellen Realitäten besetzten Öffentlichkeit.“ Zugegeben: Das mit der „Auflösung kultureller Hegemonien“ mag in oben genanntem Kontext zur Not ja noch angehen, wie aber aus dem Ganzen ein „Demokratisierungsgewinn“ per se abgeleitet werden soll, bleibt indes schleierhaft; insbesondere vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Kommunikationsformen (BILD und RTL seien hier pars pro toto genannt), deren Voraussetzungen eben nicht von einem herrschaftsfreien Diskurs à la Habermas geprägt sind.

Folglich steckt der Fehler auch hier wieder einmal im System, da merkwürdigerweise das vorausgesetzt wird, was erst noch eingelöst werden müsste. Denn was bedeutete „Demokratisierungsgewinn“, wollte man diesen nicht nur formal und somit quasi nominalistisch werten? Adorno dazu in seinem Aufsatz „Erziehung zur Mündigkeit“: „Das heißt: eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen.“ Vrankovic konstatiert denn auch ein Manko der sogenannten „Lebensweltorientierung für die Arbeit mit Jugendkulturen […], da die ideologiekritische Reflexion im Konzept der Lebenswelt außen vor bleibt.“ Folgerichtig fasst er zusammen: „Die Soziale Arbeit sollte sich von einem grundsätzlichen Misstrauen gegen die kapitalistische Verwertungslogik leiten lassen.“

    „Ideologiekritische Reflexion“

Selbstverständlich schützt gute Erziehung nicht vor schlechtem Geschmack; und auch der beste Geschmack ist mitunter nicht die Bohne wert, wenn er das letzthin Schlechte nicht zum halbwegs Erträglichen zu bessern vermag. Wenn nun die Jugendkulturarbeit ihre Integrität nicht aufs Spiel (nämlich auf das der kapitalistischen Verwertungslogik) setzen will, dann muss sie sich davor hüten, in einer Ausdifferenzierung abstrakter Spiegelfechtereien konkret unterzugehen. Natürlich kommt nachgerade die Soziale Arbeit in der Jugend(kultur)arbeit nicht umhin, die vorfindlichen Lebensumstände der Jugendlichen bei der Anwendung ihrer Konzepte in Betracht zu ziehen. Aber: Inwieweit die Ausdifferenzierung der jugendlichen Lebenswelten in Form einer vermeintlichen gesellschaftlichen Pluralisierung auch die subjektive Individualisierung nach sich zieht, dürfte hierbei nicht so leicht zu erklären sein, wie verschiedene (SHELL-)Jugendstudien glauben machen wollen. Eher ist wohl der Annahme zuzustimmen, dass ein kritischer Ansatz dann in sich selbst steckenbleibt, wenn die emanzipatorische Perspektive im Nebulösen sich verliert.

In Analogie zur sogenannten „Globalisierung“ muss daran erinnert werden, dass auch die viel beschworene (Post-)„Modernisierung der Lebenswelten“ (respektive der kulturindustrielle Zwang zu einer solchen) keiner Naturgesetzlichkeit unterliegt, sondern Ergebnis eines gesteuerten Prozesses ist; anderslautende Aussagen sind daher immer integrale Bestandteile dieses Prozesses und dienen – sozusagen zwangsläufig – einem bestimmten Herrschaftsinteresse, das jede konkrete Utopie konterkariert.

Denn die vorherrschende Kultur ist per definitionem ja eine Kultur der Herrschaft, und das Einfachste innerhalb dieser ist, jene als Geschmackssache, über die, wie man so schön sagt, nicht zu streiten sei, zu verkaufen; was letztlich genau unsere ökonomischen Verhältnisse widerspiegelt, innerhalb deren das kulturelle Bewusstsein als ein falsches und somit in Form der Ideologie sich manifestiert. Auf exakt diese Weise funktioniert die Kulturindustrie als „Verblendungszusammenhang“ (Adorno), und zwar nicht als quasi naturgegebener Zustand, sondern als reales, gesellschaftlich produziertes Verhältnis. Zu bedenken bliebe schließlich das Folgende: Wie alle gesellschaftlich produzierten Verhältnisse ist auch die Idee einer Vervollkommnung des Menschen (im Sinne der Allumfassenheit seiner Lebensäußerungen) eine totalitäre; das gilt im Anspruch für den Katholizismus, den Islam, den Stalinismus wie für alle Ausprägungen des Faschismus; schon Pascal wusste: „Wer einen zum Engel machen will, macht ihn zur Bestie.“ Die Freiheit des Menschen (als gleichsam autonomes Kollektivwesen) existiert jedoch immer jenseits dieser Totalitarismen – eben weil sie absolut zu sich und relativ zu allem anderen sich manifestiert.

Die Erkenntnis mag anachronistisch anmuten, aber: Werden die Dinge (=Verhältnisse) keiner radikalen Kritik mehr unterzogen, so werden sie – paradox genug – innerhalb besagten  Verblendungszusammenhangs diskret ausgeblendet, das heißt: als ein tatsächlich noch zu Gestaltendes den potenziellen Gestaltern entzogen. Die Konsequenz: eine in ihren Auswirkungen fatale Verklärung dessen, was Fakt ist. Das aber kann mitnichten Ziel einer aufklärerischen Sozialen Arbeit sein; vielmehr sollte sie – was übrigens mit Resignation nichts zu tun hat – immer wieder darauf hinweisen (Vrankovic spricht hier vom „’adornitischen’ Gefühl“), „dass mit der Welt etwas nicht stimmt“. Alle gegenteiligen Behauptungen bezeichneten in ihrer fehlenden Differenziertheit respektive offenen Indifferenz ein Ganzes, das nach Adorno bekanntlich das Unwahre ist.

Wahr jedoch bleibt: Die „normative Kraft des Faktischen“ ist, wie die gegenwärtige, als Finanz- oder Wirtschaftskrise verbrämte Katastrophe des Spätkapitalismus beweist, eine für die Mehrheit der Menschen ruinöse; allein dieser Umstand legitimiert die Unverzichtbarkeit der Utopie. Die List der Geschichte – als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ (G.W.F. Hegel) – könnte nun in der Tat darin bestehen, dass wir erkennten, was Jean Paul Sartre zum Schluss seines Buches „Die Wörter“ schrieb: „Die Kultur vermag nichts und niemanden zu erretten; sie rechtfertigt auch nicht. Aber sie ist ein Erzeugnis des Menschen, worin er sich projiziert und wiedererkennt; allein dieser kritische Spiegel gibt ihm sein eigenes Bild.“ Es ist also der Blick des Menschen, der ihn selbst und die Dinge entlarvt. Und wenn das, was man vorfindet, als verkorkst erkannt wird, weil es vermurkst ist, muss man dagegen sein. In den Worten des französischen Homme de lettres, der 1964 den Nobelpreis für Literatur ablehnte: „Die Menschen sind nicht zu bewundern; sie sind einander alle ähnlich, alle gleich. Es kommt darauf an, was sie tun.“