Die Jeckes (pt.1+2)

© Florian Krauss
© Florian Krauss

Der vierteilige Text über die deutschen und kulturdeutschen Einwanderer, die in den 1930er Jahren nach Palästina eingewandert sind und zu Mitbegründern des Staates Israel wurden, beinhaltet Teile des Vortrags “Zionismus und Schlafstunde”, den ich im Juni 2014 in Stuttgart und im Dezember 2016 in Bergisch Gladbach gehalten habe. Er basiert auf unzähligen Gesprächen mit den Jeckes im Elternheim “Pinkhas Rozen”, einem Treffen mit der Kuratorin des Museums der deutschsprachigen Einwanderer in Tefen, der Lektüre aller Ausgaben des Yekinton in den letzten acht Jahren und mehrerer Bücher, die ich in Tefen erstanden habe. Darüber hinaus gilt mein besonderer Dank an Opa Eran für den Einblick in historische Zeugnisse aus der Zeit der fünften Aliya.

pt.1 – Auswanderung

Als die 10jährige Gertrud Jakobsohn an einem Tag im April 1933 nach Hause kam, sah sie gepackte Koffer und ihre Familie zur Abreise drängen. Mitten im Schuljahr und dazu noch am Tag, an dem sie bei ihrer Freundin Lena zur Geburtstagsfeier eingeladen war.

Es war der Boykottag, an dem auch das Warenhaus Schocken in Nürnberg angegriffen wurde nebst der Verleumdung über vergiftete Wurst. Ihr Vater, der in der Niederlassung der Warenhauskette des jüdischen Kaufmanns Salman Schocken eine leitende Position begleitete, sah sich genötigt, mit seiner Familie ins entfernte Hamburg zu fliehen, wo die antisemitischen Auswüchse noch hinter denen in der Nazi Hochburg Nürnberg zurückstanden.

Gertrud Klimowski, geborene Jacobsohn, wurde 1923 in Regensburg geboren, wo ihr Vater Geschäftsführer des Schocken-Warenhaus war. Salman Schocken war Getruds Onkel mütterlicher Seite. Deutschlandweit besaß der Kaufmann zu Beginn der 20er Jahre bereits ein Dutzend florierende Warenhäuser. 1926 wurde in Nürnberg die 13. Niederlassung der Warenhauskette nach Plänen des Architekten Erich Mendelsohn eröffnet. Und Gertruds Vater wurde versetzt. Die Familie lebte in einer Villa unweit vom Tiergarten. Am Boykottag sahen sah Gertrud das Haus ihrer Kindheit zum letzten Mal.

Nach zwei Jahren in Hamburg bekam der Vater von Gertrud einen Posten in Freiberg, wo die Familie eineinhalb Jahre war und die Ausreise vorbereitete. Über Amsterdam gelangten sie schließlich nach Italien, von wo sie 1937 auf einem Schiff nach Haifa fuhren.

Gertrud Klimowski gehört zu den letzten der ca. 40.000 deutschen und kulturdeutschen Juden, die in den 1930er Jahren vor den Nazis nach Palästina geflüchtet sind, und zu Mitbegründern des Staates Israel wurden. Sie waren Teil der fünften Einwanderungswelle (Aliya), die ab 1933 220.000 Juden ins Land brachte.

Statistik aus dem MB der Vereinigung Deutscher Einwanderer, Mai 1934
Statistik aus dem MB der Vereinigung Deutscher Einwanderer, Mai 1934

1933 wanderten ca. 7600 Juden aus Deutschland in Palästina ein und bis 1936 blieb die jährliche Anzahl der Einwanderer auf diesem Niveau. (Zum Vergleich: Zwischen 1919 und 1932 waren nur ca. 2000 Juden aus Deutschland nach Palästina ausgewandert). Zwischen 1933 und 1936 entschieden sich ca. 30% der jüdischen Auswanderer aus Deutschland für Palästina.

Der Anteil von Rechtsanwälten, Medizinern und Wissenschaftlern war besonders hoch. Jeder siebte Einwanderer aus Deutschland war Akademiker. Allein bis 35 kamen 500 jüdische Ärzte nach Palästina.

Als in einem Bus in Tel Aviv, so ein Witz über diese Zeit, eine Frau die Wehen bekam und nach einem Arzt gerufen hat, konnten sich fünf Fahrgäste anbieten. Der Busfahrer, auch ein deutscher Einwanderer, lies es sich aber nicht nehmen, in seinem Bus zu entbinden.

Unter dem Eindruck arabischer Aufstände 1936 entschlossen sich insgesamt weniger Juden zur Einreise nach Palästina. Die Einwanderung aus Deutschland erlebte indes keinen Einbruch. Die britische Mandatsmacht reagierte auf die arabischen Aufstände mit Einreiserestriktionen. Die britische Mandatsmacht reglementierte ab 37 die Arbeitereinwanderung, während die Einwanderung gegen Nachweis von Eigenkapital zunächst uneingeschränkt blieb. Der relative Anteil deutscher Einwanderer erhöhte sich ab 36 und 39 kam schließlich jeder zweite Einwanderer aus Deutschland.

Inge Stern ist in München geboren und in Glogau aufgewachsen. Dort musste sie mit ansehen, wie ihr Onkel, ein stolzer Anwalt, am Boykotttag auf einem Lastwagen durch die Stadt gefahren wurde. Die Juden, so erzählt sie, wurden mehr und mehr zum Freiwild in der Provinz, weshalb sie dann 1934 als Vorbereitung auf die endgültige Ausreise nach Berlin zogen. Dort ging sie noch zwei Jahre auf die jüdische Schule. Als der Antisemitismus immer schlimmer wurde, schickten immer mehr jüdische Familien ihre Kinder nach England. Die Eltern von Inge konnten sich aber nicht von ihren zwei Töchtern trennen. In der Reichspogromnacht ist die Familie in den Wald geflohen. Ihre Eltern entgingen einer Verhaftung. Im Zuge der Pogromnacht wurden in Deutschland 30.000 Juden in Konzentrationslager deportiert. Das Drängen ihrer Mutter, die “Mein Kampf” gelesen hatte wurde immer stärker und schließlich entschied sich die Familie zur Auswanderung nach Südafrika, wo eine Tante von ihr ein Bekleidungsgeschäft hatte. Doch die Entscheidung kam zu spät. Das Land hatte seine Tore für Juden geschlossen. Nach Palästina kamen sie, da ihr Onkel sich für sie für ein Einreisezertifikat hoch verschuldete. Sie kamen im Mai von Genua. Ihr Großvater, der ebenfalls nach Palästina kam, hielt es in der neuen Heimat nicht lange aus. Das Heimweh ließ ihn zurück nach Deutschland reisen. Er kam in Theresienstadt um.

Im Zimmer von Henni Rothschild, geborene Henni Luise Sturm, steht eine
Kommode, die noch aus Deutschland stammt und auf der sich die Bilder ihrer Urenkel tummeln.

Als 17-jährige erlebte Henni mit ihrer Familie die Reichspogromnacht in ihrer Wohnung in München in der Geyerstraße. Ängstlich seien sie zu Hause gesessen, erinnert sich Henni, nicht wissend was als Nächstes käme. Die Pogromstimmung drang durch die Fenster in ihre Wohnung. Die nahe gelegene Synagoge ging in Flammen auf. In der Fabrikantenfamilie wurde endgültig der Entschluss zur Flucht gefasst. Obwohl die Ausreise schon lange Thema war, zögerte die Familie bis 1938, Deutschland den Rücken zu kehren. Ihre Eltern stammten beiderseits aus Polen und hatten schwer gearbeitet, um aus ärmlichen Verhältnissen in wohl situierte zu gelangen. Ihr Vater war Geschäftsführer der Pappenfabrik „Rabel“ nahe des Isarufers. Er hätte sich nur schwer von “seiner” Fabrik mit den vielen Angestellten trennen können, erzählt sie.

Vier Wochen nach der Reichspogromnacht brachen ihre Eltern mit ihrer Schwester nach Meran auf, wo sie die nächsten zwei Wochen im Hotel Stern verbrachten. Henni blieb noch sechs Tage alleine in München und kam dann nach. Noch im Dezember nahm die Familie Sturm ein Schiff von Genua nach Haifa. Dort, so erinnert sich Henni, war einer der ersten Eindrücke von ihrer neuen Heimat ein vertrauter. In der Deutschen Kolonie der württembergischen Templer, die sich in Haifa bis zum Hafen erstreckt, wehten die Hakenkreuzfahnen.

Ihren Lebensabend verbringen Gertrud, Inge und Henni im Elternheim der Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft. Diese Organisation wurde 1932 als Solidaritätswerk für deutsche und kulturdeutsche Einwanderer gegründet und entwickelte sich mit der 1933 einsetzenden Einwanderung aus Mitteleuropa zu einem bedeutenden Verband. Ihr Gründer war Pinkhas Rozen. Aus demographischen Gründen bilden die fünf Elternheime der Organisation heute den Schwerpunkt der Verbandstätigkeit. Das Elternheim, in dem ich arbeite, befindet sich in Ramat Gan, einer Stadt in der Metropolregion Tel Aviv. Es ist nach Pinkhas Rozen benannt. Den vier Stockwerken des betreuten Wohnens ist eine Station für Bewohnerinnen und Bewohner angeschlossen, die besondere Unterstützung benötigen und eine Pflegestation.
Der wöchentlich erscheinende Veranstaltungskalender im Heim ist zweisprachig verfasst und umfasst eine Vielzahl von Vorträgen sowie Musik- und Literaturangebote. Das Programm verweist auf den bürgerlichen Bildungshintergrund der Bewohner. Es gibt Vortragsreihen und Vorträge von Experten zu einzelnen Fachgebieten. Jede Woche beschäftigt sich im Kultursaal ein Vortrag über klassische Musik mit einem Komponisten und seinem Werk. Die Vorträge haben meist kunstgeschichtliche oder geschichtliche Themen, oft haben sie einen Bezug zum Judentum. Das Angebot umfasst Gymnastik, Literaturklassen, einen Bibelkreis, Singgruppen und Kunsthandwerkskurse. Ab und zu finden Konzerte statt, meist samstagabends im Kultursaal oder im Sommergarten – vom Harfen- bis zum Klezmerkonzert.

Henni Rothschild sagt, dass sie mit ihren Eltern oft ins philharmonische Orchester gegangen sei, wo die deutschen Einwanderer stets an ihrer feinen Kleidung zu erkennen gewesen seien.

Heute muss sie ihr Altersleid bezwingen, um den Konzerten im Kultursaal oder im Sommergarten beizuwohnen.

Nach dem Frühstück sitzt die 97jährige mit ihrer privaten Betreuerin unter den Orleanderbäumen im hauseigenen Park und blättert in deutschen Zeitschriften oder dem zweisprachigen Vereinsmagazin der Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft, dem “Jekinton”

In der Zeitschriftenauslage in der Eingangshalle finden sich viele deutsche Blätter. Viele Bewohner unterhalten sich untereinander oder ab und zu auch mit ihren Kindern auf Deutsch.
Bei den Bewohnerinnen und Bewohnern des Heims ist jenes liberale Bildungsbürgertum aufgehoben, das in Mitteleuropa seit dem Zweiten Weltkrieg keine Entsprechung mehr hat. Die mitteleuropäischen Juden hatten ausgeprägte Sitten, Gebräuche und Umgangsformen. Auf der Pflegestation sind die kulturellen Spuren noch erkennbar, obwohl sie vom Alterungsprozess zum Teil verwischt werden. Bildungsanspruch, eine gewisse Förmlichkeit und ein ausgeprägter Ordnungssinn lassen das Heim sehr »deutsch« wirken.

Arie Kindler verbrachte seinen Lebensabend mit seiner Frau Miriam in einer schönen Wohnung im dritten Stock des Elternheims, wo er letzten Sommer im Alter von 95 Jahren verstarb. Ich hatte Arie im Lauf der letzten Jahre oft bei seinen Ausflügen in den Park des Heims begleitet. Auch als er schon Mühe hatte, die Oberhand über seinen Rollator zu behalten, gab er noch eine stattliche Figur ab verbrachte seinen Lebensabend in einer schönen Wohnung im Elternheim. Dort verlor er sich oft in Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in Berlin. Nachdem sein Vater 1933 “Mein Kampf” gelesen hatte, stand der Entschluss fest, nach Palästina auszuwandern.

Durch das “Ha’avera”-Abkommen konnte die Familie einen Teil ihres Vermögens nach Palästina retten. Ha’avera steht für das kontrovers diskutierte Transferabkommen zwischen der Jewish Agency, der Zionistischen Vereinigung für Deutschland und Nazideutschland. Für den Yishuv (das vorstaatliche jüdische Gemeinwesen in Palästina) bedeutete das 1933 verabschiedete Abkommen einen Zufluss von Kapital und Einwanderern.
Abgewickelt wurde der Transfer von der Paltreu GmbH in Deutschland und der Haavera Ltd. in Israel, beide Tochtergesellschaften der Anglo Palestine Bank. Auswanderer haben ihre Vermögenswerte auf einem Konto der Paltreu hinterlegt. Von den Einzahlungen in Reichsmark wurden deutsche Waren für den Export nach Palästina gekauft. In Palästina kontrollierte die Ha’avera die Abnahme der Waren an die Importeure und die Auszahlung des Gegenwertes der Waren in palästinensischen Pfund an die Auswanderer. So wurde die Einwanderung der deutschen Juden befördert, die durch das Abkommen ihr Vermögen, oder zumindest einen Teil davon, sichern konnten. Wobei mit fortschreitender Zeit immer mehr Abgaben von den Nazis erhoben wurden und die Verluste für die Ausreisenden immer spürbarer wurden.

Anzeige im MB der Vereinigung Deutscher Einwanderer, Feb. 1934
Anzeige im MB der Vereinigung Deutscher Einwanderer, Feb. 1934

Da das Abkommen auch der deutschen Exportwirtschaft half, geriet es von Anfang an unter Beschuss durch die Revisionisten. In der Haaretz erschien deshalb 1933 ein Aufruf an die Bewohner des Yishuv, das Abkommen anzuerkennen und Demagogen zurückzuweisen. Ca. 1/3 der deutschen Juden, die nach Palästina ausgewandert sind nutzten das Ha’avera Abkommen.

Chaim Arlozoroff, der das Transferabkommen auf Seiten der Zionisten ausgehandelt hatte, stammte aus Berlin, von wo er 1924 in den Yishuv auswanderte und dort hoher Funktionär wurde. Noch 1933 wurde er – aus der Pension Käthe Dan kommend – am Strand von Tel Aviv niedergeschossen und starb. Seine Mörder wurden nie gefasst und bis heute ist unklar, ob es Revisionisten waren, Araber oder sogar Killer im Auftrag von Joseph Goebbels. Dessen Frau Magda Goebbels, geb. Magda Behrens war zu ihrer Studienzeit die Freundin von Chaim Arlozoroff.

Arie und sein Vater waren in einer Berliner Synagoge, als dort die Neuigkeit, Chaim Arlozoroff sei tot, die Runde machte.

Jahre nach seiner Einwanderung traf Arie Kindler in Palästina auch auf Max Flesch, mit dem er in Berlin Briefmarken gesammelt hatte.

Der inzwischen verstorbene Max Flesch ist 1907 in Neudamm geboren und in Berlin aufgewachsen und zog nach der Machtergreifung der Nazis im Jahr 1933 von Berlin nach Basel, wo er ein Jura Studium aufnahm und sich zionistisch engagierte. So verhalf er ausreisewilligen Juden an gefälschte Einreisezertifikate für Palästina zu gelangen. 1934 nahm er die Stelle als Sekretär der Zionistischen Vereinigung in Hamburg an und wechselte in dieser Funktion später nach Mannheim. Nach der Reichspogromnacht wurde Max Flesch verhaftet und in Dachau interniert, wo er gegen die Zusage seiner unverzüglichen Ausreise aus Deutschland frei kam. Max Flesch kehrte nach Basel zurück und gelangte 1939 nach Palästina. Seine Familie konnte sich nicht dazu entschließen, Berlin den Rücken zu kehren, und kam im Holocaust um.

Seine Frau Theresa Flesch, die mit ihrer jüngeren Schwester Helen im Heim lebt, sagt, dass sie erst durch Max erfahren habe, was eigentlich Zionismus sei.
Die Eltern von Theresa Flesch, die 1919 in Berlin geboren ist, hatten ein florierendes Schuhgeschäft in Berlin. Am Boykotttag wurden antisemitische Parolen auf die Schaufenster ihres Ladens geschmiert. 1937, als der Antisemitismus immer lebensbedrohlicher erschien, entschloss sich die Familie nach Palästina auszureisen. Ihre Familie, so gibt sie zu, kam eher widerwillig ins Land.

© Florian Krauss
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pt.2 Hachshara und Jugendaliya

Nicht alle Bewohner des Heims kamen mit ihren Familien ins Land.

1911 war der Zionist Felix Rosenblüth, der sich später Pinkhas Rosen nennen sollte, Mitbegründer der jüdischen Jugendbewegung Blau Weiss in Deutschland. Dem Bund für jüdisches Jungwandern Blau-Weiss folgten weitere jüdische Jugendbünde, die zunehmend zionistisch ausgerichtet waren.

Mit der Machtergreifung durch die Nazis wurde die Vorbereitung auf die Auswanderung immer bedeutender. Hachshera, wie die Vorbereitung auf die Einwanderung in Palästina bezeichnet wurde, sollte in den Fokus der zionistischen Jugendbewegungen geraten. Hachschara bedeutet die „Tauglichmachung“ bzw. „Vorbereitung“ auf ein Arbeitsleben in Palästina, die in der Regel in Ausbildungslagern für landwirtschaftliche und handwerkliche Berufe erfolgte. Koordinator der Hachshera Stellen in Deutschland war ab 38 Martin Gerson, dessen “Amtssitz” sich im Vorbereitungslager Gut Winkel befand. Für Mädchen gab es auch hauswirtschaftliche Ausbildungskurse. Die Hachschera, die zwischen eineinhalb und drei Jahren dauerte, gab es in vielen Ländern Europas, um besonders nach 1933 Jugendlichen die Gruppenweise Ausreise zu ermöglichen. Am Ende der der Ausbildung erstanden die Absolventen ein Zertifikat, das zur Einreise nach Palästina und zur Aufnahme in einen Kibbuz berechtigte. Im Jahr 1938 gab es in Deutschland 18 jüdische Ausbildungsstätten.

Judith Natan, die während ich diesen Text schreibe, verstorben ist, wanderte 1939 nach Palästina ein. Sie ist in Zerbst geboren, wo sie mit 14 Jahren als Jüdin vom Lycee geflogen ist. Obwohl sie aus einer vorbildlich deutschen Familie kam. Ihre Vorfahren hätten sich in Magdeburg als Bürger ins Stadtbuch eingeschrieben, als dies den den Juden möglich war. Im Kaufhaus Schocken in Zerbst hat sie trotz ihrer jungen Jahre Arbeit gefunden.
1937 ging sie zu einem zwei jährigen Hachshara-Kurs auf das landwirtschaftliche Gut Winkel, um sich für die Einwanderung in Palästina schulen zu lassen. Das Gut Winkel war Privatbesitz des Warenhausunternehmers und Zionisten Salman Schocken. Neben Land- und Hauswirtschaft waren die Sprache, die jüdische Identität und natürlich das Leben im Kollektiv Teil der Kurse. 1939 gelangte Judith von Trieste mit gültigen Einreisepapieren nach Palästina. Dort hat sie zwei Jahre in einer Trainingsfarm für Frauen in Hadera ihre Vorbereitung auf das Leben in der neuen Heimat abgeschlossen. Stolz erzählt sie, dass sie dank Hachshara in der Landwirtschaftsschule stets gelobt worden sei. Wäsche wurde mit einem Waschbrett über einem Zinkbottich gewaschen und Judith war eine sehr gute Wäscherin. Ihre beste Freundin war ein Mädchen aus Köln, mit der sie sich auf Deutsch unterhalten hat.

Der inzwischen verstorbene Bewohner Ahron Getzow stammte aus Köln, wohin seine Eltern aus Weißrussland geflohen waren. Ahron Getzow kam mit der Jugendaliya nach Palästina, nachdem er einen dreimonatigen Vorbereitungskurs der Jugendaliya auf einem Bauernhof nahe Köln absolviert hat. Mit einer Gruppe von 52 Jugendlichen kam er in Israel in das Kibbuz HaYeled HaShachar. Wie er sagt, waren nicht wenige unter ihnen von zu Hause verwöhnte Kinder, die ihren ersten Schock bekamen, als sie um 5 Uhr morgens aufwachen mussten, um in die Arbeit des Kibbuz eingebunden zu werden. In der landwirtschaftlichen Kollektivsiedlung hatten sie nun ihren Teil zum Aufbauwerk beizutragen. Sie erlernten die Feldarbeit und das Zusammenleben im Kibbuz und wurden militärisch trainiert.

Recha Freier und die Jugendaliya, so sagte er, hätten ihm das Leben gerettet.

Als sie 1932 von fünf 16jährigen ostjüdischen Jungen, die aus ihren Stellen gekündigt wurden, um Hilfe gebeten wurde kam Recha Freier die Idee Jugendliche zur Persönlichkeitsförderung und zum Aufbau des Landes nach Palästina zu schicken. Recha Freier ist die geistige Urheberin und Initiatorin der Jugendaliya.
Ihre Idee, Jugendliche nach Palästina in Siedlungen der Arbeiterbewegung zu schicken fand wenig Anklang. Noch 1933 war man nicht davon begeistert, Kinder von ihren Eltern zu trennen, um sie “in die Wüste” zu schicken. Die Vorbehalte betrafen die Sicherung der finanziellen und organisatorischen Fürsorge. Dazu kamen ideologische Bedenken hinsichtlich der kommunistischen und sozialistischen Umtriebe in den Siedlungen der Arbeiterbewegung.
Am Tag der Machtübernahme von Hitler gründet Recha Freier bei einem Rechtsanwalt offiziell das „Hilfskommitee für jüdische Jugendliche“. Am 30. Mai 1933 entstand die Jugend-Aliyah, die im September 1933 an die neu gegründete Reichsvertretung der Juden in Deutschland angegliedert wurde.
Ansatz der Jugendaliya war, den Jugendlichen in Palästina nach ihrer Einreise eine Ausbildung zu ermöglichen statt diese zur Voraussetzung für die Einwanderung zu machen. Die Jugendaliya unterhielt verkürzte Hachshera Kurse und schickte auch unvorbereitete Jugendliche nach Palästina.

aus einer Festschrift zu 60 Jahre Einwanderung aus Mitteleuropa
aus einer Festschrift zu 60 Jahre Einwanderung aus Mitteleuropa

Recha Freier scheute sich nie in einer rechtlichen Grauzone zu agieren. So buchte sie Überfahrten bevor sie Einreisezertifikate hatte und drängte mit den Billets auf deren Ausstellung der Zertifikate. 1938 wurde sie aus dem Vorstand der jüdischen Jugendhilfe ausgeschlossen. Während der Pogromnacht hielt sie sich mit ihrer Familie in London auf, kehrt aber sofort nach Deutschland zurück und setzte ihre Aktivitäten auf eigene Faust fort.
Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges durften Kinder und Jugendliche nicht mehr direkt ins britische Mandatsgebiet einwandern. Sie waren „feindliche Ausländer“. Die Jugendaliya versuchte nun, Kinder in neutralen oder freien Ländern unterzubringen.
Recha Freier wurde wegen von Kollegen denunziert, aus Polen stammenden Juden zu helfen. Da sie rechtzeitig gewarnt wurde, gelang es ihr mit ihrer Tochter über Zagreb, Griechenland, die Türkei und Syrien auf nach Palästina zu gelangen.
Ihr Leben lang litt Recha Freier, die mehr als 7600 Kinder aus Nazideutschland herausgebracht hat, darunter, daß sie nicht noch mehr Kinder retten konnte.
Ich habe, seit ich im Heim arbeite fast ein Dutzend Bewohner kennengelernt, die mit der Jugendaliya nach Palästina entkommen konnten.

1924 ist Arie Erez als Louis Holzmann im zweiten Bezirk Wiens geboren, dem Bezirk, in dem „die meisten Juden der Stadt lebten“, wie er sagt.Seiner Kindheit wurde ein Ende bereitet, als Österreich 1938 heim ins Reich kam. Arie war Teil einer 120köpfigen Gruppe der Jugendaliya, die 1939 einem illegalen Transport angeschlossen wurde. Er ging als Kladovo Transport in die Geschichte ein.

Text: Oliver Vrankovic

pt.3+4