Die Jeckes (pt.3+4)

Lilit und ich
Lilit und ich

Man riss meine Wurzeln
aus dem Land meiner Geburt.
Ich verpflanzte sie stolz
ins Land unsrer alten Geschichte
Ich wuchs
und stand fest
und bin Element

(Lilit Pavell – Vergessne Kindheit)

pt. 3 – schwierige Integration

Palästina war zur Zeit der 1933 einsetzenden fünften
Einwanderungswelle Mandatsgegebiet unter britischer Verwaltung.
Das jüdische Gemeinwesen in Palästina, dass die Einwanderer absorbierte wies in den 30er Jahren bereits eigene Strukturen und Formen der Selbstverwaltung auf. Osteuropäische Zionisten, Kinder der Russischen Revolution, die mit der zweiten Aliya ab 1904 ins Land kamen, prägten den Charakter des Yishuv. Sie verbanden die Heilserwartung, die mit der Rückkehr zum Boden der Urväter verbunden wurde mit dem klassenkämpferischen Ansinnen der Arbeiterbewegung. Sie verbanden das Streben nach nationaler Befreiung der Juden mit der Befreiung des Proletariats. Der Arbeiterverband Histadruth mühte sich um die Strukturen für ein sozialistisch organisiertes Gemeinwesen und schuf wegweisende Institutionen für eine bessere Gesellschaft. Die Arbeiterpartei Mapai unter dem Vorsitz von Ben Gurion war stärkste politische Kraft. Die sozialistische Hegemonie schlug in alle Bereiche der sich bildenden israelischen Gesellschaft durch. Die Pioniere idealisierten ein Zusammenleben in landwirtschaftlichen Kollektivsiedlungen, in denen ein jüdischer Arbeiter- und Bauernstaat heranreifen sollte.

Ein gutnachbarschaftliches Verhältnis der hemdsärmligen Pioniere zu den bürgerlichen Jeckes, wie die deutschen und kulturdeutschen Einwanderer bezeichnet wurden, hat zunächst auf sich warten lassen.

Mit der fünften Aliya fanden sich im Yishuv plötzlich – entsprechend einem Witz aus jener Zeit – neben Einwanderern aus Überzeugung auch solche aus Deutschland.

Meine Bewohner erzählen, dass Jecke eine äußerst abschätzige Bezeichnung war, als der Begriff aufkam. Anzug und formale Höflichkeit standen im Gegensatz zum Arbeiterideal der Pioniere. Ihre liberalen Einstellungen, ihr oft affirmatives Verhältnis zur britischen Mandatsmacht und ihre Toleranz gegenüber den Arabern weckte den Argwohn der sozialistischen Zionisten, die mitten im Machtkampf mit Briten und Arabern standen.

Tatsächlich aber wies das Verhältnis der Einwanderer aus Deutschland zum Zionismus stark unterschiedliche Schattierungen auf. Neben schwer integrierbaren Vertriebenen, die widerwillig nach Palästina eingewandert waren, kamen auch überzeugte Zionisten ins Land.

1933 wurde in der Jewish Agency die Deutsche Abteilung gebildet, die sich um die Einwanderung deutschsprachiger Juden kümmern sollte. Arthur Ruppin wurde Leiter dieses Zentralbüros für die Ansiedlung deutscher Juden in Palästina. Die Deutsche Abteilung versuchte die Mittelstandseinwanderer zu einer landwirtschaftlichen Tätigkeit zu motivieren. Anreiz war u.a. eine Beschleunigung des Kapitaltransfers durch die Ha’avara. 15 % der mitteleuropäischen Einwanderer zwischen 1933 und 1939 ließen sich in landwirtschaftlichen Kolonien nieder. In Kollektivsiedlungen (Kibbuzen), Genossenschaftssiedlungen (Moshavs) und in einer Reihe landsmannschaftlich geschlossener Mittelstandssiedlungen. Diese deutschen Mittelstandssiedlungen, waren eine Besonderheit der fuenften Aliya. In ihr vollzogen jene Einwanderer, die ohne landwirtschaftliche Erfahrung mit ihren Familien kamen, einen radikalen Berufswechsel und nahmen eine Absage an die Stadt auf sich. (Es sei erwähnt, dass laut einer Volkszählung von 1933 nur 1,75% der Juden in Deutschland landwirtschaftlich beschäftigt waren). Sie hatten mit neuartigen Anforderungen zu kämpfen: schwere, ungewohnte körperliche Arbeit, dürftige Wohnbedingungen, subtropische Krankheiten und das sich Gewöhnen an kooperative Beziehungen und Unternehmen. Der Umbruch machte Verzichte und Entsagungen notwendig, schuf aber auch einen neuen Elan und das Gefühl an einem großen Werk beteiligt zu sein.

MB der Vereinigug deutscher Einwanderer, Dezember 1934
MB der Vereinigug deutscher Einwanderer, Dezember 1934

In den deutschen Mittelstandsiedlungen fanden sich viele Kaufleute, Ärzte, Apotheker und Anwälte. In der Gründergruppe der Siedlung “Ramot Haschavim” z.B. waren u.A. 17 Ärzte und 7 Anwälte und nur ein Landwirt. Die Eltern von Ruth Aviran, einer privaten Betreuerin im Heim sind bereits 1933 eingewandert. (Ihrem Onkel war die Einreise nicht vergönnt). Sie stammten aus gutbürgerlichen Hamburger Verhältnissen. Ihr Vater brach sein Medizinstudium in Berlin ab. 1935 wurde ihnen angeboten, ins Moshav Yidit zu ziehen. Obwohl sie eine der ersten Familien dort waren, gab es zu der Zeit bereits vier Ärzte in Yidit. Für die Eltern von Ruth Aviran war es eine Zeit der Entbehrung und harter Arbeit. Ihr Leben in der neuen Heimat bestand aus Kartoffeln, Rüben, Oliven und was der Boden sonst noch hergab.

Tatsächlich entwickelten sich die deutschen Siedlungen aber äußerst erfolgreich. Und nicht nur in landwirtschaftlicher Hinsicht. Trotz der schweren Arbeit haben die Jeckes in den Mittelstandsiedlungen ihr kulturelles Erbe gepflegt. Zur bedeutendsten „deutschen“ Siedlung entwickelte sich Naharia. Die Stadt war eine Kopfgeburt des russischen Agronomen Soskin, der ein Modell für intensivierte Landwirtschaft auf Kleinparzellen schaffen wollte. Die Umstände der fünften Aliya und die Ankunft vermögender Einwanderer aus Deutschland brachten den Versuch einer Umsetzung der Vision im Rahmen einer privaten Siedlungsbaugesellschaft. Doch das utopische Kolonisationsmodell von Soskin scheiterte, da sich seine ehrgeizigen Pläne für die intensive Landwirtschaft in Naharia als unbrauchbar erwiesen.

MB der Vereinigung der deutschen Einwanderer, Juni 1935
MB der Vereinigung der deutschen Einwanderer, Juni 1935

Die meisten deutschen und kulturdeutschen Juden, die ab 33 einwanderten, gingen aber in die Städte Haifa, Jerusalem und Tel Aviv. Obwohl das Streben nach einer kleinbügerlichen Existenz den Pionieren ein Dorn im Auge war, wurde mit der fünften Einwanderungswelle die Entwicklung der Städte befördert. Die Einwohnerzahl Tel Avivs verfünffachte sich zwischen 1930 und 1947. Im Zuge der Einwanderung ab 33 eröffneten in Tel Aviv Hunderte Kaffeehäuser, in denen deutsche Einwanderer, zum Ärger der Pioniere in Jackett und Fliege saßen. Wobei die Einwanderer, die die Stadt vorzogen, auch mit Problemen fertig werden mussten, die sie aus ihrem früheren Leben nicht kannten. Sie mussten geeignete Arbeitsplätze suchen, und oft Berufe wechseln, um sich und die Familie zu ernähren und die Miete bezahlen zu können. Zu den vorgefundenen Bedingungen zählten Armut, schlechte Behausung, das Fehlen passender Arbeit und ein rigoroser Kampf ums tägliche Brot.
Welten trennten die Einwanderer vom Lebensstandard, den sie aus Deutschland kannten. Gertrud Klimowski erzählt, dass ihr Vater oft lange am Fenster stand und sich grämte. In Nürnberg hatten sie eine Villa und Bedienstete und in Tel Aviv nur eine kleine Wohnung. Gertrud musste schon früh anfangen zu nähen.

Das Hauptintegrationsproblem der Jeckes war die Sprache. Eines der zentralen Anliegen im Yishuv war die Durchsetzung der hebräischen Sprache. Die alten Menschen im Heim erzählen, dass ihre Eltern erhebliche Probleme hatten diese komplizierte Sprache zu erlernen und in den Familien weiter Deutsch gesprochen wurde. Auf der Straße wurden die deutschen Einwanderer angefeindet, wenn sie sich in ihrer Muttersprache unterhielten. Im Yishuv waltete ohnehin die Anstrengung das Hebräische gegen das Jiddische und andere Sprachen der Diaspora durchzusetzen. Deutsch wurde auch jenseits der zionistischen Ideale als Sprache der Nazis zurückgewiesen. Henni Rothschild erzählt, dass sie und ihre Mutter einmal als “Hitlerzionisten” beschimpft wurden, als sie auf der Straße Deutsch gesprochen hätten. Im Yakinton, der Zeitung der Vereinigung mitteleuropäischer Einwanderer, erschienen 40 in drei aufeinander folgenden Ausgaben eindringliche Aufrufe an die Einwanderer aus Deutschland, sich im öffentlichen Raum nicht auf Deutsch zu unterhalten.

Die Kulturlandschaft im Yishuv, die von der osteuropäischen Mehrheitsgesellschaft geprägt war, nahm sich für die deutschen Bildungsbürger nicht gerade einladend an. Wie sich ihre liberalen Einstellungen nicht gerade mit der sozialistischen Agenda der Pioniere vertragen hat, fiel es den Jeckes auch hinsichtlich des Kulturangebotes schwer, sich einzuleben. In Palästina prallten die völlig verschiedenen Lebenswelten der Juden aus dem Westen und dem Osten Europas aufeinander. Dies geschah genau unter umgekehrten Vorzeichen als in Europa, wo die Juden aus dem Westen als assimilierte Stadt- und Bildungsbürger mit einwandernden Juden aus dem Osten konfrontiert wurden, die seit den 1880er Jahren nach Westen geflohen waren. Die Juden aus dem Osten hatten sich in den Schtetls abgeschottet und ihre eigene jüdische Kultur erhalten. Die Juden im Westen verlangten von ihnen, sich anzupassen. In Palästina dagegen wanderten die jüdischen Bildungsbürger aus dem Westen in ein von osteuropäischen Juden dominiertes Kulturgefüge ein.

Die gesellschaftliche und kulturelle Hegemonie der Einwanderer aus Osteuropa machte den Jeckes zu schaffen. Die vorherrschenden Normen in der neuen Heimat waren den eigenen Sitten und Weltanschauungen fremd. Beispielhaft kann dies an den Jeckes und dem hebräischen Theater aufgezeigt werden. Professor Tom Lewy hat im Yekinton eine mehrteilige Reihe zu dem Thema veröffentlicht, in der die Schwierigkeiten der kulturellen Integration schön aufgezeigt werden. Zur Zeit der fünften Aliya boten die Theater im Land den Einwanderern aus Mitteleuropa nicht nur keine Bühne, sondern lockten sie auch nicht als Zuschauer in die Vorstellungen. “Ein Abgrund trennte den emotionalen (um nicht zu sagen sentimentalen) Stil des russischen Theaters von der Rationalität des deutschen Theaters jener Tage.” Das 1919 in Moskau gegründete und 1931 in Erez Israel angesiedelte Theater Habima “bemühte sich um die Entdeckung und Bewahrung hebräischer und jüdischer Mythen aus der fernen Vergangenheit, sowie der Darstellung jüdischen Lebens im Osteuropa des 19. Jahrhunderts.” Wer an die Klassiker der deutschen Bühnen gewohnt war, musste damit genauso vertraut werden, wie mit der kollektiven Organisationsform des Theaters Habima, das dem Geist der kommunistischen Revolution entsprang. Doch nicht nur die Gleichbehandlung aller Akteure ungeachtet ihrer Fähigkeiten und das Fehlen eines Repertoires nach mitteleuropäischem Geschmack erwiesen sich als Barrieren zwischen den Jeckes auf der einen Seite und Habima und den weiteren Theatern, die ähnlich wie Habima funktionierten auf der anderen Seite. Es war vor allem die Sprache. Die jungen Idealisten, die Habima gegründet haben, sahen im Theater ein “Mittel im Kampf um die Auferstehung der hebräischen Sprache und der jüdischen Nationalität”. Über biblische und messianische Themen und die Schtetl Folklore sollte es zu einer Aneignung des jüdischen Lebens kommen. Eingebettet in die ideologischen Anliegen sollte das Theater als Bildungsstätte aber vor allem zum hebräischen Wort und zur hebräischen Sprache führen.

Im Dezember 1934 heißt es in einem Artikel “Habima” im Mitteilungsblatt der Vereinigung der deutschen Einwanderer ganz explizit:
„Als die Habima vor einigen Jahren in Europa spielte, bedeutete sie das entscheidende jüdische Erlebnis für große Kreise der Judenheit. […] Genau wie der Palästinagedanke war dieses Theater für die Juden des Westens zwar ein schönes beglückend fremdes Ideal; es verpflichtete aber zu nichts Tatsächlichem. […] Palästina ist für viele Juden des Westens zum buchstäblichen Lebensinhalt geworden. Das Fremde ist allzunahe gekommen, und das Schöne daran verloren gegangen. […] Die Sprache, die dort, besonders von der Bühne her, klingende Melodie hatte, ist hier unverständlich und bedrückendes Hindernis.”

Herzstück ihres kulturellen Lebens in der neuen Heimat war den Jeckes die Kammermusik, deren Bedeutung für die Einwanderer aus Mitteleuropa weit über Unterhaltung und Zerstreuung hinausging. Die Abende für Amateurmusiker und Musikliebhaber kamen in Eigenregie zustande und folgten dabei aber stets einem formalen Zeremoniell. Professor David Witzhum hat im Yekinton einen großartigen Artikel über die Geheimsekte der Kammermusiker geschrieben.“Ein Außenseiter könnte die Tiefe des Erlebnisses und die Serie seltsamer kleiner Zeremonien, die das esoterische Tun begleiten, kaum verstehen.” Über die Kammermusik als Tradition der Jeckes schreibt er, dass ihre Besonderheit “im (ach so) deutschen Wort „Innerlichkeit“, dem Schlüsselbegriff der deutschen Kultur schlechthin” liege. Nicht die Kammermusik, die nichts Deutsches und nichts Nostalgisches hat und ohne Worte und Inhalte auskommt“ spricht von Sehnsucht, sondern das Zeremoniell, das sie umgab und das gemeinsame Musizieren in eine Art Gebet verwandelte, in einen heiligen Bezirk”. Es ging auch darum eine geistige Welt “nach dem Muster der in Berlin, Heilbronn, Linz oder Prag verlassenen Häuslichkeit wieder aufzubauen.” Um ihr Kulturgut nicht nur zu wahren, sondern sich ihm hinzugeben, brauchte es die Naivität zu glauben, das Erhabene könnte abtrennt werden “von jenen anderen, dunklen Aspekten, deren Verwirklichung im Deutschland der Nazis die Jeckes schließlich widerwillig ins Land brachte”. Das fortgesetzte regelmäßige Zusammenspiel beschreibt der Professor als Brücke in die alte Heimat. “Sie dachten dabei an ein Europa, das es in Wirklichkeit niemals so gegeben hatte, wie sie es sich vorstellten”. Sehr schön deckt Witzhum in seinem Artikel auch die skuril anmutenden Eigenheiten der Jeckes auf. Er beschreibt das Zustandekommen der kammermusikalischen Abende als zeitlich genau geplant und im Ablauf streng festgelegt. Eine Reihe von Anweisungen, so gibt er zum Besten, regelten formal ungern gesehene Eventualitäten.

Lilit Pavell ist mit 104 Jahren die älteste Bewohnerin des Heims. Ein großer Kraftakt ist für sie der tägliche Weg in den Speisesaal, den sie im Rollstuhl sitzend immer noch selbst bewältigt.
Lilit kommt aus Stettin, wo sie auf das Auguste-Victoria-Gymnasium ging und an der Universität Musik und Philosophie studierte. Nach der Machtübernahme der Nazis wanderte sie 1933 mit ihrem Mann Hanan nach Palästina aus. Ihr Mann hatte eine Anstellung als Architekt in Tel Aviv gefunden und wurde nach einigen Jahren Stadtplaner. Bis zu ihrer Ankunft im Yishuw, dem vorstaatlichen jüdischen Gemeinwesen in Palästina, hießen die beiden Heinz und Lotte.
In seinem Elternhaus sei Deutsch gesprochen und Mittagsruhe eingehalten worden, erzählt ihr Sohn Dan, der 1938 geboren ist. Erst als er in die Schule gegangen sei, hätten seine Eltern angefangen, sich mit ihm auf Hebräisch zu
unterhalten.
Bevor sie als Bewohnerin in das Heim ging, hielt Lilit Pavell dort musiktheoretische Vorträge, und als sie einzog, vermachte sie ihr Klavier der Station, auf der sie heute gepflegt wird.
Auch für Lilit Pavell war die Entrückung des häuslichen Musizierens tonangebend in den Jahren nach ihrer Einwanderung.
Zu den bleibenden Erinnerungen von Lilit Pavell gehören die Kammermusikabende, die in ihrem Salon stattfanden. Mit merklicher Leidenschaft erzählte mir Lilit manches Mal vom Zustandekommen und Ablauf solcher Abende und der Hingabe an die Musik. Alle deutschen Musiker in der Stadt hätten sich untereinander gekannt und zu Trios und Quartetten zusammengeschlossen. Ihr Salon habe dabei eine besondere Bedeutung gehabt, da sie ein Klavier besaß.

Über den kulturellen Anspruch hinaus, und das habe ich in den Gesprächen mit Lilit Pavell vor einigen Jahren gelernt, waren die Zirkel der Musikliebhaber auch als soziale Netzwerke für die Neueinwanderer bedeutend. Lilit Pavell war es immer wichtig, zu erläutern, dass die Kammermusik von einem Kreis von Musikern getragen wurde, die sich untereinander kannten. Wenn Kammermusikgruppen sich zu Stücken entschlossen haben, die eines Klaviers bedurften, kam es des Öfteren dazu, dass sie sich in ihrem Wohnzimmer einfanden. So spielte sie nicht nur mit ihrer festen Gruppe, sondern auch mit anderen. Es sei üblich gewesen, irgendwo einzuspringen oder zu vertreten. Alle Musiker haetten die gleichen Anliegen gehabt und seien so auf natürliche Weise zusammengekommen. Sie tauschten auch Informationen zu möglichen bezahlten Gelegenheitsengagements aus.

Der Name eines Musikers mit dem Lilit Pavell gespielt hat und an den sie sich erinnern kann, ist Ze’ev Steinberg, der “mit uns angefangen hat”, wie sie einaml versicherte. Kennengelernt hat sie ihn bei einer Fahrt in einem Sammeltaxi von Haifa nach Tel Aviv. Steinberg war, wie er auch in einem Interview heraushebt, dass er der Zeitung Yedioth Ahronot gegeben hat, Taxifahrer. Lilit Pavell erzählt, dass er auf dem Beifahrersitz ein Notenheft hatte, in das er während der Fahrt geschrieben hat. Dieses ungewöhnliche Komponieren hat ihre Aufmerksamkeit erregt.

Lilit Pavell hat sich über die Kammermusik hinaus für das erste Orchester in Tel Aviv engagiert. Dazu gehörte, die Masse an Neuankömmlingen aus Europa stets auf bekannte Musiker zu sichten. Wenn die Einreise eines bekannten Dirigenten oder Instrumentalisten anstand, wurde auf dessen Eingliederung in den Musikbetrieb hingewirkt. Unter den Musikliebhabern jener Zeit sorgte solch eine Ankunft stets für Aufregung.

Ihre widersprüchlichen Gefühle gegenüber ihrer alten und der neuen Heimat hat Lilit in ihren Gedichten verarbeitet. Es sei ihr lange unmöglich gewesen, Gedichte auf Deutsch zu verfassen, erzählt sie. Ihr erstes deutsches Gedicht hatte den Titel »Vergessne Kindheit«. In der gut sortierten deutschsprachigen Bibliothek des Heims finden sich die gesammelten Werken der kanonisierten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

lilit

pt.4 – Mitbegründer

Nach seiner Einwanderung hat Arie in Schlossereien und Handwerksbetrieben sein erstes Geld verdient und war beim Bau des Hafens von Tel Aviv beschäftigt. Später hat er für eine Verleihwäscherei gearbeitet, die dem Onkel seiner späteren Frau Miriam gehörte.

In Tel Aviv ließ sich Arie für die paramilitärische Hagana rekrutieren, die Keimzelle der israelischen Armee. Im Unabhängigkeitskrieg kämpfte er in einem Kommando Bataillon unter dem Befehl von Moshe Dayan gegen die Belagerung Jerusalems. Eine Niederlage in diesem oder einem der vielen Kriege, die folgten, hätte die Vernichtung der Juden bedeutet, erklärte er mir oft. Als sein Enkel Major der Luftwaffe wurde, war er von Stolz erfüllt. Israel würde sich nie das Wohlgefallen der Welt erkaufen können, war er überzeugt. Das Schicksal des Staates hing an seinen Streitkräften.

Arie Kindler wurde im Laufe seines zivilen Lebens Leiter der ersten Ausgrabungen in Israel. Im Verlauf seiner Karriere hat sich Arie Kindler auf Münzen spezialisiert. Er war Präsident der israelischen numismatischen Gesellschaft, Dozent an der Bar Ilan Universität und Verfasser von Fachbüchern. Arie Kindler war Leiter der Abteilung für Münzen am Israel Museum und hat Adenauer bei dessen historischem Besuch in Israel durch das Museum geführt. Er erzählt, dass er sich mit dem Kanzler über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Judentum und Christentum unterhalten hätte. Bei den Münzen hat Arie Kindler Adenauer einen Geldschein vom deutschen Notgeld gezeigt. Adenauer sagte: “Das kenn ich”

Max Flesch, der Jugendfreund von Arie Kindler, arbeitete als Rechtsanwalt für die Regierung und handelte zwischenstaatliche Verträge aus. Seine Frau Theresa leitete eine Bank.

Henni Rothschild heiratete einen Einwanderer aus Dinslaken. Ihr Beitrag zum israelischen Aufbauwerk war die Gründung eines Hilfsvereins für autistische Kinder.

Salman Schocken, der Onkel von Gertrud Klimowski, ist 1934 aus Deutschland nach Palästina ausgewandert.
Salman Schocken war berühmter Kaufmann, Zionist und Verleger. Er besaß mit seinem Bruder Simon ein Warenhausunternehmen, dessen Alleineigentümer er wurde, als sein Bruder tödlich verunglückte. Der Zionist Schocken gründete ein Institut für die Erforschung der hebräischen Poesie und wurde 1931 zudem Verleger. Schocken war der erste Herausgeber von S.Y. Agnon. Salman Schocken hat in Palästina die Zeitung Haaretz gekauft und die Haaretz Gruppe gegründet und 1939 auch ein Verlagshaus in Tel Aviv gegründet.

Die Einwanderer aus Deutschland haben überproportional viel zur
wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung des Yishuv beigetragen.

Der entscheidende wirtschaftliche Fortschritt stützte sich auf die Kapitalisteneinwanderung und eine Gruppe ausgebildeter Fachleute.
Aus Mitteleuropa kamen 1933-1941 23.000 Kapitalisten Einwanderer, die war mehr als die Hälfte der Kapitalisten Einwanderer in diesem Zeitabschnitt. Als Kapitalist gilt in diesem Zusammenhang, wer mit einem Zertifikat für Kapitalisten (eine von fuenf Kategorien) eingewandert ist und dafür Eigenkapital von mind. LP 1000 vorweisen musste.

Die Wirtschaft von den Jeckes bedeutend modernisiert. Als Unternehmer, Banker und Kaufleute verfügten die deutschsprachigen Einwanderer über reichlich Fachwissen um Handel, Industrie und Geldwirtschaft auf die Höhe der Zeit zu bringen.

Das Wirtschaftswachstum, für das die Jeckes gesorgt haben, trug seinen Teil dazu bei, die Araber in Palästina weit zu überflügeln. 37 zählte der Yishuv 240 deutsche Unternehmer. 138 befanden sich ein Fünftel der Fabriken im Land in der Hand von Jeckes.
Die Industrie im Mandatsgebiet war vor der fünften Aliya mit vielen Problemen behaftet. Für die Produkte der Industrie nur einen kleinen Markt, auf dem sie zudem noch mit Importen konkurrieren mussten. Auch der niedrige Lebensstandard hemmte den Binnenabsatz. Die Industrie hatte im Gegensatz zur Landwirtschaft ein niederes Ansehen. Sie war den sozialistisch-zionistisch ausgerichteten Pionieren suspekt. Die Pioniere der zweiten und dritten Aliya waren ohne Kapital und Bildung ins Land gekommen und hatten eine gefestigte revolutionäre Einstellung, die das Profitstreben ablehnte und dem Unternehmertum feindlich gegenüberstand.
Erst im Laufe der Zeit erfuhr der unternehmerische Beitrag zum Aufbau des Yishuv seine Würdigung.

Die Jeckes brachten die Geldwirtschaft und das Versicherungswesen, die Pharma- und Textilindustrie und anderen Unternehmensbereiche voran. Die Börse wurde von Jeckes gegründet und in den ersten Jahen wude dort auf Deutsch gehandelt.

Die Jeckes haben die liberale Maccabi Krankenkasse gegründet, weil die vom Histadruth gegründete sozialistische Krankenkasse keine freie Ärztewahl zugelassen hat. Heute ist die freie Ärztewahl in allen Krankenkassen üblich.

Deutsche Professoren haben sich um die Forschung und Lehre verdient gemacht und Palästina zu einem akademischen Leuchtturm im Nahen Osten.

Die vielen Beamten, Anwälte und Richter, die mit der fünften Aliya ins
Land gekommen sind, wurden nach der Staatsgründung gebraucht, um den
Staatsapparat und das Rechtswesen aufzubauen.

Deutsche Juden legten den Grundstein für den Pharma Giganten Teva.

Mit der fünften Aliya kamen zu den Baumeistern der Pioniergeneration ca. Weitere 100 Architekten nach Eretz Israel, die mit dem modernen internationalen Stil vertraut waren. Unter ihnen Hanan Pavell.
Die Jekkes haben das Cameri Theater gegründet, benannt nach den
Kammerfestspielen in Berlin. Das erste Stück “Diener zweier Herrn”, das im
Cameri aufgeführt wurde (und bis heute aufgeführt wird) war auch
Premierenstück der Kammerfestspiele in Berlin. Auch das Hotelwesen wurde von den Jekken bedeutend vorangebracht. In Tel Aviv gingen aus der Pension Käthe die Dan Hotels hervor.

David Gross schrieb 1975 in einem Artikel “Oj Jerusalem” für die Jerusalem Post: “Wenn wir doch nur 200.000 zusätzliche Jeckes ins Land bekämen! Sie brauchen nicht gerade solch feierlich aussehenden Juden aus Deutschland mit Jackets zu sein, sondern Menschen, die ihre Aufgaben methodisch und verlässlich erfüllen[…] Eine Spritze von “Jeckismus” zur Beachtung von Details und eine gesunde Arbeitseinstellung ist notwendig, um aus der typischen Hybris – Dinge können “nicht mehr schlimmer” werden, sie können “nur besser werden”, ohne dass man etwas dazu tun braucht, herauszukommen”

Die Einwanderer aus Mitteleuropa standen nicht nur als Unternehmer, Industrielle, Facharbeiter und Dienstleister hinter der ökonomischen Entwicklung des Yishuv. Sondern auch als Konsumenten. Ida Engländer führte mit ihrem Mann ein Fachgeschäft für Damenbekleidung in der
ehemals renommierten Allenby Straße in Tel Aviv. Ida Engländer ist 1938 nach Palästina ausgewandert. Ihr Handwerk hat sie in Dresden gelernt und wurde für ihre Fähigkeiten zur Trägerin des deutschen Handwerks ernannt. Ihr Fachgeschäft für Damenbekleidung hielt das Versprechen deutscher Maßarbeit. Wer es sich hätte leisten können, sagt Ida Engländer, hätte bei ihnen eingekauft. Viele ihrer Kunden seien Deutsche gewesen, sagt sie und fügt an, dass sie die deutschen Kunden am liebsten gehabt hätte. Von der Qualität ihrer Erzeugnisse sei die Bekleidungsindustrie heute weit entfernt, sagt sie.

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Pinkhas Rosen ist einer der Gründungsväter des jüdischen Staates. Als Gründer und Vorsitzender der Neuen Aliyah Partei war er einer der Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung 1948. Nach Staatsgründung stand er den Progressiven vor, einem liberalen Parteienbündnis, das nach der ersten Wahl mit Mapai koalierte. Rosen wurde erster Justizminister des jüdischen Staates. Rosen gehörte bis 1968 ununterbrochen der Knesset an und wurde mehrere Male zum Justizminister ernannt.

Ahron rekrutierte sich während des zweiten Weltkriegs für die britische Armee und diente im Ingenieurscorps R.E.M.E.. Während des israelischen Befreiungskrieges war er mit der Bewaffnung der jüdischen Truppen im belagerten Jerusalem beauftragt. Sein direkter Vorgesetzter war der Distriktkomandant für Jerusalem, David Shaltiel, ein deutscher Jude aus Hamburg. Ahron studierte am Technion in Haifa und machte Karriere bei der israelischen Flugzeugindustrie. In gesetztem Alter wurde er als deren Vertreter nach Deutschland entsandt. Außerdem wurde er in seiner Heimatstadt Köln zu Diskussionsvorträgen über den Holocaust eingeladen.

Das utopische Kolonisationsmodell in Naharia scheiterte. Es kam zu Aufweichungen der Idee und zu Ausnahmeregelungen. Naharia wurde zum Zentrum der Milchwirtschaft und eine Reihe bedeutender Lebensmittelkonzerne wurden in Naharia gegründet. Die Familie Strauss aus Ulm hat in Naharia die Molkerei Strauss gegründet, aus der ein großer Lebensmittelkonzern wurde. Ebenfalls in Naharia wurde die Fleischerei Soglobek gegründet, heute ebenfalls ein bedeutender Lebensmittelkonzern. Die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner von Naharia wandten sich nach Scheitern des Landwirtschaftsmodells der Fabrikarbeit zu und machten die Stadt Naharia zur Wiege bedeutender Industrieunternehmen. In der Metallbranche brachte der Unternehmer Wertheimer seine Firma Iscar an die Weltspitze. Stef Wertheimer, der die Rangliste der vermögendsten gründete 1953 in Naharia eine Firma für Metallverarbeitung. Iscar profilierte sich auf dem Weltmarkt und Wertheimer zog mit der sich vergrößernden Firma in den dafür angelegten Industriepark Tefen. Außerdem schufen die Jeckes in Naharia eine Tourismusbranche und machten die Stadt am Mittelmeer zum beliebten Badeort. Einzelne Institutionen der Jeckeszeit haben sich gehalten. Das Caferestaurant
Pinguin etwa befindet sich bereits seit 1940 am selben Ort und im Besitz der
Gründerfamilie Oppenheimer.

Eine Anekdote aus dem Unabhängigkeitskrieg, die ich von Arie Kindler gehört habe, hat mit den Jeckes aus Naharia zu tun. Als die landsmannschaftlich geschlossene Stadt im Unabhängigkeitskrieg abgeschnitten und von den Arabern belagert wurde, hielten die Bewohner der Belagerung stand. In einem Funkspruch proklamierten sie: „Naharia bleibt deutsch!“

zu pt.1+2

 

Text: Oliver Vrankovic