Über die schrecklichen Dinge, die er durchgemacht hat, schwieg Pessach Anderman sechzig Jahre. Er habe eine Stahlwand um die Vergangenheit errichtet, sagt der Holocaustüberlebende. Er habe die Gegenwart gelebt mit vielen Zukunftshoffnungen und habe nicht gewollt, dass seine Kinder im Schatten seiner düsteren Erlebnisse aufwachsen.
Als seine Enkelkinder erwachsen wurden, fühlte er sich verpflichtet seine Geschichte zu erzählen und hat sie in dem Buch “כוח החיים” niedergeschrieben. Um künftigen Generationen von Israelis zu verstehen zu geben, woher sie gekommen seien und sie für den weiteren Aufbau ihrer Nation zu stärken.
Und um künftigen Generationen von Nicht-Israelis die Begründung für den jüdischen Staat darzulegen.
Das Buch wurde von Ruth Achlama, der Übersetzerin der Amos Oz Bücher ins Deutsche übersetzt. “Der Wille zu leben”.
Im Geleitwort schreibt Pessach Anderman: “Noch heute sind wir bedroht und unsere Feinde versuchen uns brutal zu terrorisieren. In aller Welt gibt es Menschen, die meinen, uns bei jeder passenden Gelegenheit kritisieren zu müssen, wobei teilweise auch antisemitische Beweggründe mitspielen. Sie sehen uns gerne schwach und armselig, ohne begriffen zu haben, dass der Israeli nicht mehr der schwächliche Jude ist, den sie aus der Diaspora kennen. Wir sind uns sicher, dass wir ein Anrecht auf unser kleines Land haben, und werden, wenn nötig, darum kämpfen, in unserem eigenen Staat zu leben.”
Pessach Anderman ist 1929 im gallizischen Buczacz geboren, der Geburtsstadt von S.Y. Agnon, auf die der Literaturnobelpreisträger oft in seinem Werk Bezug nahm. In der Stadt und im Umland lebten ca. 10.000 Juden inmitten von Polen und Ukrainern. Diese seinen zum großen Teil Antisemiten gewesen, wobei es v.a. von Seiten der Ukrainer in Buczacz und in den umliegenden Dörfern zu judenfeindlichen Übergriffen kam. Pessach verlor mit vier Jahren seinen Vater und lebte mit seinem älteren Bruder Lonek und seiner sieben Jahre älteren Schwester Sally bei seiner Mutter, als Buczacz an die Russen fiel. Die anfängliche Freude der Juden über die Besatzung durch die Kommunisten verflog im Zuge von Deportationen nach Sibirien und Übergriffen des sowjetischen Militärs recht schnell. Sein Bruder Lonek der nach Lwow ging, von er studierte, schilderte in seinen Briefen, dass im von den Deutschen besetzten Polen schreckliche Verbrechen an den Juden begangen würden. Nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion kam Lonek nach einem langen Fußmarsch aus Lwow und drängte seine Mutter zur Flucht nach Russland. Doch die Mutter weigerte sich, da sie die ukrainischen Schlägerbanden auf den Landstraßen fürchtete. Lonek flüchtete und gelangte nach Russland, rekrutierte sich für die Rote Armee und starb in den letzten Kriegsmonaten bei einem russischen Sturmangriff auf die Deutschen.
Für Pessach und seine Schwester Sally begann ein unfassbarer Überlebenskampf. Aus einem bombardierten Zug gelang es Pessach Waschseife zu stehlen, die ihn und seine Mutter und seine Schwester durch den ersten Winter brachte. Einmal die Woche ging er mit seiner Mutter auf Schleichwegen auf die Dörfer, um dort zu tauschen.
Das Leben in Buczacz wurde immer unerträglicher. Sonntags randalierten betrunkene Ukrainer nach dem Kirchgang in der Stadt. Die Stimmung wurde von der Nazipropaganda immer aufgehetzter. Besonders schlimm war es für die Landjuden. Sein Onkel Joseph und dessen Familie wurden auf einem Dorf von Ukrainern ermordet. Die Mörder blieen unbehelligt. Seine Großmutter Esther, die es mitansah, sprach seit diesem Tag kein Wort mehr.
“Ohne das Mitwirken von Ukrainern, Polen, Litauern und Angehörigen anderer Völker”, schreibt Pessach im Geleitwort zu seinem Buch, “hätten die Deutschen die Massenvernichtung der Juden nicht bewerkstelligen können”.
Für Pessach, seine Schwester und seine Mutter folgte die Übersiedlung ins Ghetto, und damit verbunden die Razzien und Aktionen. Die Mutter von Pessach erkrankte an Thyphus und starb.
Pessach ging einmal die Woche ohne Judenstern auf den Markt und verdiente sich mit Tauschhandel etwas zum überleben für sich und seine Schwester. Im Besonderen mit Zigaretten, die er herzustellen wusste und in seinen Mantel einnähte.
In seinem Buch “Der Wille zu leben” schreibt Pessach, “Der ganze Tauschhandel war von Todesgefahr überschattet. Aber wir mussten uns der Gefahr aussetzen, um zu existieren. Ich hatte einen feinen Riecher für Gefahr, spürte sie auf dem Markt schon nahen, wenn ich noch gar nichts sah oder hörte. Dann nahm ich die Beine in die Hand und flüchtete. Schon damals beschloss ich, dem Tod niemals ins Gesicht zu sehen, sondern ihm immer den Rücken zu kehren. Wenn das Schlimmste denn geschehen sollte, müsste ich wenigsten nicht in die grausame Fratze der Mörder sehen. Flucht bot immer eine Chance mit dem Leben davonzukommen”.
Am Leben gehalten wurde Pessah auch von seinem Religionslehrer Kola Israel, der ihn im Ghetto die Thora lehrte und ihm so das Gefühl vermittelte, Glied einer jüdischen Generationenkette zu sein, die nicht abreissen dufte. Der Lehrer Kola Israel prophezeite ihm, den Krieg zu überleben und ins verheißene Land auszureisen.
Als die SS 1943 für eine Aktion im Ghetto aufmarschierte, flüchteten Pessach und Sally und ein paar weitere Bewohner des Ghettos, überquerten die Strypa und gelangten auf den Hof des Stromwerks unter dessen verlassenem Pferdestall sich ein Bunker befand. Als Wehrmachtsoldaten aufkreuzten brachten sie ihre Pferde in die Ställe, unter denen sich die Flüchtlinge aus dem Ghetto Buczacz versteckten. Zwei Tage hatten sie unten im Bunker gekauert, dann seinen die Soldaten abgezogen und sie wären zurück ins Ghetto gegangen. Dort sucht Pessach nach seinem Lehrer Kola Israel, den er nicht mehr vorfand.
Auch vor der nächsten und letzten Aktion, zu der die SS ins Ghetto kam, konnten sich Pessach und seine Schwester flüchten. “Der Daseinskampf auf Leben und Tod wurde für mich notgedrungen zur selbstverständlichen alltäglichen Gewohnheit” schreibt Pessach.
Buczacz wurde judenrein und die letzten verbliebenen Bewohner des Ghettos wurden ins Ghetto Tluste transferiert. Dort trafen Pessach und Sally auf ihren Vetter Edzio und dessen Eltern. Als die SS für eine Aktion im Ghetto Tluste anrückte, flüchteten Pessach, Sally und Edzio auf verschiedenen Wegen. Pessach gelangte auf einen Heuboden, von dem aus er beobachten konnte, wie rund 40 Juden, die aus dem Ghetto geflohen waren, von ukrainischen Hilfstrupps der SS zusammengetrieben wurden. Um Munition zu sparen wurden sie mit Mistgabeln ermordet. Die Bilder, so sagt Pessah, verfolgten ihn immer noch. Er harrte zwei Tage auf dem Heuboden aus. Zurück im Ghetto fand er sowohl seine Schwester als auch seinen Vetter am Leben. Edzions Eltern wurden dagegen mit anderen Bewohnern des Ghettos auf einem nahen Hügel erschossen. Pessach und seine Schwester ließen sich für die Zwangsarbeit rekrutieren. Diese bestand in unmenschlich harter Feldarbeit, die unter der Aufsicht eines ukrainischen Aufsehers und eines polnischen Kommandanten mit einer Peitsche stand.
Es gab Selektionen und Gerüchte über Massaker in nahen Arbeitslagern. Als eine Todesschwadrone der SS im Lager ankam, gelang es Pessach, seiner Schwester und 12 weiteren Insassen auf eine nahe gelegene Anhöhe unter einen großen Baum zu fliehen, wo sie von ukrainischen Hilfstruppen der SS eingeholt wurden. Pessach und seiner Schwester gelang die abermalige Flucht in ein Weizenfeld, wo sie in einer Furche überlebten, während die 12 anderen hingerichtet wurden. Sie schlichen sich ins Lager zurück, wo viele dem Massaker zum Opfer gefallen waren. Später flüchtete sich Pessach während eines Arbeitsgangs zu einer Bauersfamilie, wo er als Tabaktrockner anzuheuern gedachte. Er wurde erwischt und unter Peitschenhieben zurück zur Arbeit gezwungen, wo ihn der Aufseher weiter zurichtete. Vom unbändigen Überlebenswillen getrieben, flüchteten er und seine Schwester sich durch Furchen unter dem Zaun aus dem Lager und schaffte es bei couragierten Bauern unterzukommen. Diese Bauern gehörten zu den wenigen Polen und Ukrainern, die sich Barmherzig zeigten und denen gegenüber Pessach ewig “tiefe Dankbarkeit” empfinden wird. Im Sommer 43 arbeiteten er und seine Schwester auf zwei verschiedenen Höfen. Dann wurde Pessach denunziert. Ein ukrainischer Hilfspolizist schlug auf der Türschwelle des Hofs mit dem Gewehrkolben auf Pessach ein und gerade als er ihn mit einem Kopfschuss hinrichten wollte, fiel die couragierte Gutsherrin dem Hilfspolizisten in den Arm. Pessach rannte und die Schüsse auf ihn verfehlten ihr Ziel. Was mit der Gutsherrin passiert sei, weiss er nicht.
Er flüchtete sich zu seiner Schwester und die beiden beschlossen, getrennte Wege zu gehen. Der Winter 1943/44 war bitterkalt und schwer. Pessach begegnete seinem Vetter Enzio wieder, mit dem gemeinsam er die Flucht durch den Winter von Heuschober zu Kuhstall fortsetzte. Auf einem Hof einer Bäuerin die zu jenen Barmherzigen zählte, die bereit waren unter Lebensgefahr zu helfen, fanden sie für kurze Zeit Unterschlupf auf dem Heuboden. Allerdings wurden sie dort vom Gutsherren entdeckt, der von allem nichts wusste. Sie rannten davon und wurden von einer Gruppe Ukrainer entdeckt und festgesetzt. Die Ukrainer folterten aus dem Vetter heraus, wo sie sich versteckt gehalten hatten. Sie wurden auf den Hof gebracht, wo die Bäuerin um Mitleid flehte. Die Ukrainer ließen die Beiden vor ihren Augen laufen und setzten dann aber die Hunde auf sie an. Knapp entgingen die Vettern dem Tod. Dann erkrankte Enzio schwer. In einem Kuhstall einer weiteren barmherzigen Bäuerin, die sie ein paar wenige Tage unter Gefährdung ihres eigenen Lebens im Stall duldete, schliefen sie links und rechts einer Kuh als diese sich eines Nachts erhob und den Vetter zertrat.
Als die Russen Buczacz befreiten, traf er seine Schwester wieder, die sich den Partisanen angeschlossen hatte. Die überlebenden Juden kamen im Stadtzentrum zusammen. Pessach verdiente am Tauschhandel mit den Russen. Doch die Freiheit währte nur kurz. Die Deutschen brachten die Stadt noch einmal unter ihre Gewalt und wieder fanden sich Pessach und seine Schwester auf der Flucht. Als er einmal entdeckt und beschattet wurde kehrte nicht in die Bunkeranlagen zurück sondern flüchtete sich nach Gajes, ein nahe gelegenes Dorf. Dort kam er dem Tod näher als je, als ihn eine Gruppe Ukrainer entdeckte und ihm eine Patrone auf die Stirn band und diese mit Schlägen auf die Hülsenspitze auslöste. Pessach brach blutend zusammen, starb aber nicht. Er erlitt eine schwere Entzündung an der er zu Grunde gehen drohte. Ein Teil der Patronenhülse steckte in seiner Stirn. In einer waghalsigen Aktion schnitt er sich eines Tages die Wunde auf, ließ Eiter abfließen und riss sich die Hülse aus dem Kopf. Er überlebte und blieb auf der Flucht, die für ihn erst am 27. Juli 1944 endete.
Er verstehe bis heute selbst nicht, woher er damals die Kraft zum Weitermachen genommen habe, erzählt mir Pessach an einem der Nachmittage, die wir in einem Cafe in Tel Aviv verbrachten.
Er habe unzählige Male den Todesengel vor Augen gehabt. Doch sei er der Hand des Todes jedes Mal entkommen.
“Ich war ein Junge von zwölf Jahren und die Flucht war die einzige Waffe, die mir zur Verfügung stand.“ schrieb er 2013 für einen Newsletter der Internationalen Schule für Holocaust Studien.
Im Gegensatz zur ersten Befreiung Buczaczs, die freudig aufgenommen wurde, herrschte nach der zweiten Befreiung Lähmung und Trauer. Wieder kamen die Überlebenden zusammen. Dieses Mal waren es deutlich weniger. Von den 10.000 waren nur noch wenige Dutzend am Leben. Doch die Schwester von Pessach war unter ihnen.
Pessach nahm den Tauschhandel wieder auf. Er tauschte Wodka, den er in Brennereien auf dem Land erwarb, gegen all das, was die russischen Truppen dafür bereit waren zu geben. Und das war einiges. Doch Selly drängte ihren Bruder in die Schule zu gehen. Dort war er der einzige Jude in der Klasse und tat sich schwer. Überhaupt teilte er die Sehnsucht seiner Schwester und deren zionistischer Freunde nach Erez Israel auszuwandern. Die Sehnsucht ist in seinem Buch schön beschrieben. Pessach belauscht Gespräche seiner Schwester und junger Leute im Alter seiner Schwester: “Die meisten sagten, sie wollten Buczacz verlassen und ins Land Israel fahren: Dort würden sich die Überlebenden versammeln und dort würden wir uns eine jüdische Heimat errichten. Unseren eigenen Staat gründen und nach 2000 Jahren Jahren Verbannung wieder freie Menschen sein. Warum sollten wir hier auf diesem riesigen Friedhof herumlaufen?” Pessach und Sally machten sich im Gefolge der Roten Armee auf den Weg nach Rumänien. Pessach tat dies auch im Gedenken an seinen Religionslehrer Kola Israel.
Sie gelangten über Peschmischel, eine Stadt an der polnisch-ukrainischen Grenze, wo sie von der örtlichen jüdischen Gemeinde für einige Tage aufgenommen wurden, nach Satmar in Ungarn, wo sie auch von der örtlichen jüdischen Gemeinde aufgenommen wurden. In Satmar wurden sie Zeugen einer Tragödie, die sich entfaltete, als eine junge KZ-Überlebende erfuhr, dass sie ihre ganze Familie im Holocaust verloren hatte. Von Satmar gelangten sie nach Bukarest. In Bukarest wurden sie an den Joint verwiesen, eine amerikanisch-jüdische Hilfsorganisation, die sich kriegsgeschädigten Juden annahm. Pessach kam auf eine Landwirtschaftsschule in Banyassa. Er trennte sich von seiner Schwester, die er erst 23 Jahre später wiedersehen sollte. Sally gelangte nach Bari, wo sie einen polnischen Juden aus Krakau heiratete und dann aber nicht nach Palästina auswanderte, sondern in die USA.
Pessach genoss die Monate auf der Landwirtschaftsschule, die von Brüderlichkeit und Hinwendung nach Erez Israel geprägt waren. Pessach war immer mehr vom Pioniergeist beseelt. Dann allerdings stellte sich heraus, dass die Schule nicht genügend Einwanderungszertifikate für alle ihre Absolventen bekommen konnte. Pessach war ohne Einwanderungszertifikat, als er seine Kameraden an den Hafen von Constanza begleitete. Doch der Fluchterfahrene nutzte eine Gelegenheit, als er einem Kameraden bedeutete ein Bullauge von innen zu öffnen. Es gelang ihm in den Schiffsbauch zu springen, sich eines rumänischen Matrosen zu entledigen und nach Palästina zu fahren.
Dort waren die Briten bereits informiert, dass sich Illegale auf dem Schiff befänden. Pessach und die anderen Passagiere ohne Einreisezertifikate kamen ins Lager Atlit und Wochen später frei.
Pessach kam er zu seiner Jugendgruppe in die Landwirtschaftsschule Mikve Israel. Es war ein seelischer, körperlicher und emotionaler Neuanfang für Pessach, der Jahre hatte wie ein getriebenes Tier leben müssen und darüber seine Jugend verloren hatte.
Pessach wurde in Mikve Israel einer religiösen Gruppe zugeteilt, obwohl er, wie er sagt, während des Krieges böse auf Gott geworden sei und aufgehört habe an ihn zu glauben. Er wurde in Ackerbau und Schmiedehandwerk unterrichtet.
Neben der Ausbildung und Feldarbeit und sonstigen Arbeit wurden die Auszubildenden in Mikve Israel auch militärisch geschult und schließlich zur Hagana vereidigt.
Nach zweieinhalb Jahren beendete Pessach die Ausbildung in Mikve Israel und schloss sich mit seinen Kameraden dem Kibbuz Messuot Jitzhak im Siedlungsblock Gush Ezion an. “Unterwegs nach Messuot Jitzhak im Siedlungsblock Gush Ezion wuchs die Erregung. Ich stand unmittelbar vor der Verwirklichung eines Traums – in Erez Israel den Boden zu bestellen, die Wüste zu bezwingen, dieses Stück Bergland bei Jerusalem zu besiedeln und dort tiefe Wurzeln zu schlagen.” Das zionistische Siedlungswerk war harte Arbeit und besonders in den Bergen um Jerusalem verlangte es viel Schweiß, Felsen zu sprengen, Terrassen anzulegen und Land urbar zu machen. Pessach wurde außerdem der Verteidigungsgruppe des Kibbuz zugeteilt, der von feindlichen arabischen Ansiedlungen umgeben war. Bei nächtlichen Geländeübungen ging es darum, das Gelände auswendig zu lernen.
Am Tag nach der Annahme des Teilungsplans für Palästina durch die UN schnitten arabische Milizen den Weg von Jerusalem nach Gush Ezion ab und belagerten den Siedlungsblock. Die vier Kibbuze, die den Siedlungsblock bildeten, legten Verteidigungsanlagen mit Schützengräben und Unterständen an und teilten Nachtwachen ein.
Der Siedlungsblock wurde manches Mal von arabischen Banden, unterstützt von der arabischen Legion und unter Schutz der Briten angegriffen. Im Januar 1948 ereignete sich eine Tragödie, die Pessach nie aus dem Kopf gehen sollte. 35 Mann, die mit Nachschub nach Gush Ezion auf dem Weg waren, wurden in den Wadis, durch die sie sich vorbei an den feindlichen arabischen Dörfern bewegten, von einem Hirten entdeckt. Sie ließen ihn entkommen und er verriet sie seinerseits an die Araber in den Dörfern, die alle 35 Mann massakrierten. Tage später bekamen sie in Gush Ezion von den Briten 35 geschändete Leichen ohne Nasen, Ohren, Hände und Genitalien ausgeliefert.
Auf einer Lesung für die Israelisch-Deutsche Gesellschaft, wo ich Pessach das erste Mal traf, wurde er gefragt, ob er wirklich der Meinung sei, dass keine Armee humaner sei als die israelische, wie er im Geleitwort zu seinem Buch behaupte. Pessach antwortete unumwunden mit ja. Er führte die Order an, die Waffe nie gegen Unschuldige, Minderjährige und Alte zu richten. Und er führte ein Beispiel an. Der Ehrenkodex, erklärte er, sei den 35 Mann, die den minderjährigen Hirten laufen ließen, zum Verhängnis geworden.
Der Siedlungsblock war nur äußerst unzureichend bewaffnet. Schwere Geschütze fehlten und die leichten Maschinengewehre klemmten oft. Der Alltag im Siedlungsblock bestand aus Arbeit, Wache, Kampf.
Nachdem Ben Gurion die Weisung ausgegeben hatte, dass die jüdischen Ansiedlungen überall um jeden Preis gehalten werden müssten, stellte die Hagana Ende März einen Konvoi zusammen, der aus quasi allen gepanzerten Fahrzeugen der Hagana in Jerusalem bestand, um Gush Ezion mit dem Notwendigsten zu versorgen. Als der Konvoi abgeladen hatte und den Siedlungsblock Richtung Jerusalem verließ, gelangte er bei Nebi Daniel unweit von Bethlehem in einen arabischen Hinterhalt. Die Briten blieben beobachtend außen vor, als die Juden sich verschanzen konnten, um sich der Angreifer zu erwehren. Das Gefecht kostete vielen jüdischen Soldaten das Leben und brachte die Zerstörung einer Vielzahl der gepanzerten Fahrzeuge.
In Gush Ezion waren ca. 300 Kämpfer, Männer und Frauen, unter ihnen eine Einheit des legendären Palamach, zu denen alle aufblickten. Der Belagerungsring wurde immer enger gezogen. Am 11. Mai begann die arabische Legion mit 45 Panzerwagen den Siedlungsblock anzugreifen, um auf Jerusalem vorzurücken. Zehntausende Araber aus den Dörfern schlossen sich der Offensive an. Die Gefechte am Felsenhügel, der Verteidigungslinie vor dem Siedlungsblock, dauerten zwei Tage an. In einem Cafe in Tel Aviv erzählt mir Pessach 67 Jahre später, dass in diesen zwei Tagen die Verteidigungsanlagen in Ramat Rachel soweit befestigt werden konnten, dass sie später verhindert hätten, dass der Kibbuz in die Hände der Legion fällt. Mit Ramat Rahel wäre der Weg nach Jerusalem frei gewesen und die Stadt wohl gefallen. Erst als ihnen die Munition ausgegangen sei, hätten sie ihre Stellung am Felsenhügel geräumt und sich in Richtung Kfar Ezion zurückgezogen. Da Pessach das Gelände wie kein anderer kannte, war er für den Abtransport von Verletzten nach Messuot Jitzhak verantwortlich. Einmal zeigte mir Pessach eine Mail, die der damals amtierende Verteidigungsminister Barak ihm im Februar 2008 schrieb. “Wie viele andere weiß ich die seltene Tapferkeit zu schätzen, die Sie bei der Deckung und Führung der Kolonne der Verwundeten von Kfar Ezion nach Messuat Jitzhak bewiesen haben. Auf einer der Tragen lag damals auch der Bataillonsführer und spätere General der israelischen Armee, Abraham Tamir. Der Felsenhügel, auf dem das erbitterte Gefecht stattfand ist heute eine Gedenkstätte, besucht von israelischen Kindern uns Soldaten, die wie ich hoffe, die Geschichte ihres Heldentums von dort weitertragen werden.”
Den Verteidigern von Gush Ezion war klar, dass sie sich für ihr letztes Gefecht rüsten würden.
Pessach in seinem Buch:”Ich hatte so viele Verfolgungen und Gefahren durchgemacht und immer wieder um mein Leben gekämpft, aber dem Kampf um Gush Ezion maß ich besondere Bedeutung bei. Hier hatte ich die Gewissheit für ein heiliges Ziel zu kämpfen und nicht nur um das eigene Überleben”
Das Lazarett in Messuot Jitzhak wurde vermint. Der Kibbuz Kfar Ezion war schon gefallen und die Kämpfer in Messuot Jitzhak erreichten Berichte von einem Massaker, dass dort nach der Einnahme angerichtet wurde. “Ich persönlich war völlig einig mit dem Gedanken, das dies der letzte Kampf meines Lebens werden könnte. Ich hatte wenigstens meinen Traum wahr gemacht und das Gebot meines alten Lehrers befolgt, denn ich hatte Jerusalem verteidigt und meinen bescheidenen Beitrag zu Israels Wiedergeburt geleistet.”
Zur gleichen Zeit verhandelte Ben Gurion mit König Abdullah die Kapitulation Gush Ezions. Statt zu sterben, geriet Pessach in jordanische Gefangenschaft.
Die Wahrheit aus erster Quelle sei nur von den Zeitzeugen der Shoah und der Gründung des Staates Israel zu erfahren, sagt Pessach entschlossen, als er 67 Jahre später über einem Cappuchino und einem Schokocroissant sitzt. Das Gedenken an die Shoa solle den Soldaten von heute Mut und Entschlossenheit verleihen. Es sei wichtig, dass Überlebende der Shoa, die im Unabhängigkeitskrieg von 1948 gekämpft hätten, davon erzählen würden, ist Pessach überzeugt.
In seinem Bemühen, Erinnerungen weiterzugeben und Erklärungen zu liefern, sucht Pessach seit Erscheinen seines Buches auch in Deutschland den Kontakt zu Schülern und Lehrern. Er sehe es gerade in Zeiten zunehmenden Antisemitismus als absolut notwendig an, dass viele Zeitzeugen von ihren Erlebnissen berichten. Aus der Wahrheit, die von ihm aus erster Quelle zu erfahren sei, ergebe sich die Begründung für den jüdischen Staat mit seiner starken Armee. Angesichts der großen Propagandamaschinerie der arabischen Länder gelte es, die eigenen Erklärungen unermüdlich zu begründen. Der Dämonisierung Israels könne und müsse mit der Wahrheit begegnet werden, antwortet mir Pessach Anderman als ich ihn in frage, woher sein Tatendrang rühre.
Pessach hat viele Schulen in Deutschland besucht, denen er vorab sein Buch zukommen lies und sich dann zur Befragung stellte. Ein Vorgehen, dass er sich ausgedacht und das sich bewährt habe, wie er versichert. Zum Beweis zeigt er mir Dutzende danksagende Zuschriften von Schülern, mit denen er geredet hatte. Aus Fürth und Berlin und von überall in Deutschland. Rund 600 Feedbacks habe er bekommen, sagt Pessach. Seit drei Jahren ist der 86jährige aber schlecht zu Fuß und kann sich nur auf einen Spazierstock gestützt fortbewegen. Seither sind die Besuche an deutschen Schulen durch Videokonferenzen ersetzt. Diese würden vorbildlich funktionieren, sagt Pessach und nennt als Beispiel eine Konferenz aus diesem Jahr mit Schülern aus sieben Schulen aus Sachsen Anhalt.
Johannes Rau hat nach Erscheinen des Buchs mit Pessach 200 Exemplare von “Der Wille zu leben” im Bundestag verteilt. Klaus Kinkel schrieb das Vorwort zum Buch. Als Außenminister hörte Kinkel von Pessach persönlich vor Jahren in Yad Vashem dessen Geschichte und war sehr betroffen. Vor drei Jahren, erzählt Pessach, habe er mit Präsident Gauck und der Tochter von Rabbi Carlebach ein fast dreistündiges Gespräch in Jerusalem geführt.
Pessach lässt sich nicht auf die Funktion des Zeitzeugen des Holocaust reduzieren. Auf seiner Haltung zur Vergangenheit baut seine Haltung zur Gegenwart. Zu seiner Haltung gehört, dass Israel die Speerspitze im Kampf gegen den fanatischen Islamismus bildet. In einem “Meer von Arabern” sei Israel Gefahren ausgesetzt, die inzwischen auch auf Europa übergreifen würden und deren sich Europa aber noch nicht wirklich bewusst sei.
Pesach begleitete in seinem zivilen Leben eine leitende Funktion in einem Betrieb der Metallindustrie. Geschäftlich hatte er nicht nur mit Deutschen, sondern auch viel mit Palästinensern in Hebron, Nablus und Gaza zu tun, zu denen er auch außerhalb der Arbeit Kontakte knüpfte und die er dort besuchte. Eine Annäherung zwischen den Völkern sei möglich und den Willen zum Frieden gebe es auf beiden Seiten, ist Pessach auch heute noch überzeugt, wo Umfragen für die palästinensische Seite etwas anderes sagen.
Gush Ezion, der nach dem israelischen Sieg im Sechs-Tage-Krieg wieder aufgebaut wurde, habe mit dem Siedlungsblock, den er mit aufgebaut habe, nicht mehr viel zu tun. Er sei religiöser und nationalistischer. “Not my cup of tea”, wie er sagt.
Pessach sieht sich als Teil der zu wenig gehörten Mehrheit der Israelis, die sich Frieden wünschen. Es sei an der Zeit, sagte Pessach, als er in diesem Jahr das Mikrophon bei der Asher Ben Natan Konferenz ergriff, dass diese Mehrheit sich Gehör verschaffe.
Deshalb hat Pessach ein Aufklärungsprojekt im Auge, für das er gerade bei der deutschen Botschaft und den politischen Stiftungen um Unterstützung wirbt. Er möchte sich, im Rahmen einer Dokumentation, als Zeitzeuge Fragen von deutschen Schülern zu seiner persönlichen Geschichte und zur Staatsgründung Israels stellen und als Vertreter der friedliebenden Mehrheit, Fragen zum Nahostkonflikt beantworten.
Text: Oliver Vrankovic