Verlorene Heimat

Als am 9. November 1938 in Deutschland die Synagogen brannten, wich in der Familie von Regina Kessler die Sorge der Angst.
Die Synagoge, die ihr Vater jeden Shabat besucht hatte, stand in Flammen. Die Familie sass in ihrer Wohnung in einem Berliner Mehrfamilienhaus, als wenig später die Gestapo auftauchte. Geistesgegenwärtig ging ihre ältere, blonde Schwester ins Treppenhaus, um den Schergen zu erzählen, dass die Juden im Haus bereits abgeholt worden seien. Regina Kessler gelang es noch, sich von der Kinder- und Jugendaliya eine Anstellung als Haushälterin bei einer jüdischen Familie in Southhampton vermitteln zu lassen. So kam sie noch 1938 an Ausreisepapiere und verliess Deutschland. Ihre Eltern und ihre ältere Schwester blieben zurück und fielen dem Holocaust zum Opfer.

Henni Rothschild erlebte als 17jährige mit ihrer Familie die Reichspogromnacht in ihrer Wohnung in München in der Geyerstraße. Ängstlich hätten sie zu Hause gesessen, erinnert sich Henni, nicht wissend, was als Nächstes kommen würde. Der Lärm des Pogroms drang durch die Fenster in ihre Wohnung. Die nahegelegene Synagoge ging in Flammen auf. Die Fabrikantenfamilie fasste endgültig den Entschluss zur Flucht. Obwohl die Ausreise schon lange Thema war, zögerte die Familie bis 1938, Deutschland den Rücken zu kehren. Dabei waren sie von den meisten Nachbarn längst als Juden angefeindet worden. Aber ihr Vater hätte sich nur schwer von seiner Fabrik für Pappen nahe dem Isar-Ufer trennen können, erzählt Henni.

Ihren Lebensabend verbringen Regina Kessler und Henni Rothschild im Elternheim der Organisation für Einwanderer mitteleuropäischer Herkunft. Diese Organisation wurde 1932 als Solidaritätswerk für deutsche und kulturdeutsche Einwanderer gegründet und entwickelte sich mit der 1933 einsetzenden Einwanderung aus Mitteleuropa zu einem bedeutenden Verband. Aus demographischen Gründen bilden die fünf Elternheime der Organisation heute den Schwerpunkt der Verbandstätigkeit. Das Elternheim, in dem ich arbeite, befindet sich in Ramat Gan, einer Stadt in der Metropolregion Tel Aviv. Den vier Stockwerken des betreuten Wohnens ist eine Station für Bewohnerinnen und Bewohner angeschlossen, die besondere Unterstützung benötigen und eine Pflegestation.
Der wöchentlich erscheinende Veranstaltungskalender im Heim ist zweisprachig verfasst und umfasst eine Vielzahl von Vorträgen sowie Musik- und Literaturangebote. Das Programm verweist auf den bürgerlichen Bildungshintergrund der Bewohner. Es gibt Vortragsreihen und Vorträge von Experten zu einzelnen Fachgebieten. Jede Woche beschäftigt sich im Kultursaal ein Vortrag über klassische Musik mit einem Komponisten und seinem Werk. Die Vorträge haben meist kunstgeschichtliche oder geschichtliche Themen, oft haben sie einen Bezug zum Judentum. Das Angebot umfasst Gymnastik, Literaturklassen, einen Bibelkreis, Singgruppen und Kunsthandwerkskurse.
Ab und zu finden Konzerte statt, meist samstagabends im Kultursaal oder im Sommergarten – vom Harfen- bis zum Klezmerkonzert. Zuletzt gab es eine Reihe mit Tango. Bei den Bewohnerinnen und Bewohnern des Heims ist jenes liberale Bildungsbürgertum aufgehoben, das in Mitteleuropa seit dem Zweiten Weltkrieg keine Entsprechung mehr hat. Die mitteleuropäischen Juden hatten ausgeprägte Sitten, Gebräuche und Umgangsformen. Auf der Pflegestation sind die kulturellen Spuren noch erkennbar, obwohl sie vom Alterungsprozess zum Teil verwischt werden. Bildungsanspruch, eine gewisse Förmlichkeit und ein ausgeprägter Ordungssinn lassen das Heim sehr »deutsch« wirken.

Im Zimmer von Henni Rothschild, geborene Henni Luise Sturm, gibt es eine Kommode, die noch aus Deutschland stammt, auf der die Bilder ihrer Urenkel stehen
Ihren Kleidungsstil und die Art zu kochen änderte sie in der neuen Heimat nicht, in der Familie wurde auch weiter Deutsch gesprochen. Mit dem Festhalten an der Sprache, aber auch an der bürgerlichen Etikette verweigerten sich die deutschen Einwanderer den Forderungen der osteuropäischen Pioniere, die das jüdische Gemeinwesen in Palästina dominierten.
Henni Rothschild erinnert sich, dass sie mit ihren Eltern oft ins philharmonische Orchester gegangen sei, wo die deutschen Einwanderer stets an ihrer feinen Kleidung zu erkennen gewesen seien. Außerdem seien sie oft zu Konzerten in die von deutschen Juden gegründeten Mittelstandssiedlungen gefahren, in denen sich ein reiches Musikleben entwickelte.

Als Regina Kessler als jüngste Tochter der Familie mit der Kinderaliya nach England geschickt wurde, war die Familie ihres besten Freundes aus Berlin schon nach Palästina ausgereist. Sein Vater, ein Arzt, sei gläubiger Jude gewesen und gleichzeitig ein deutscher Patriot und Weltkriegsveteran, für den es ein Schock gewesen war, als ihm die Nazis mitgeteilt hätten, dass er keine Deutschen mehr behandeln dürfe und kein Geld mehr von der Krankenkasse bekäme. Er sei über seine Verbitterung Zionist geworden. Wie er waren viele deutsche Juden um Anpassung in Deutschland bemüht und wandten sich erst aufgrund der Zurückweisung dem Zionismus zu.
Einem Witz zufolge gab es ab 1933 in Palästina neben Zionisten aus Überzeugung plötzlich auch solche aus Deutschland.

Auf der Strasse seien sie grob angefahren worden, wenn sie Deutsch gesprochen hätten, erzählt mir Henni Rothschild “Hitlerzionisten” seien sie einmal genannt geworden, erinnert sie sich. In der Zeitung der Organisation der Einwanderer aus Mitteleuropa erschienen 1940 in drei aufeinanderfolgenden Ausgaben eindrichliche Aufrufe an die Einwanderer aus Deutschland, sich im öffentlichen Raum nicht auf Deutsch zu unterhalten
Henni Rothschild heiratete einen Einwanderer aus Dinslaken. Ihr Beitrag zum israelischen Aufbauwerk war die Gründung eines Hilfsvereins für autistische Kinder. Wenn sie morgens auf 3 Sat ins Alpen-Panorama schaltet, wünscht sie sich, noch einmal Schnee zu sehen. Aber sie macht auch klar, dass sie Deutschland ablehnt. Sie sei nie wieder in ihre alte Heimat zurückgekehrt und habe nie geglaubt, dass sich die Deutschen geändert hätten.
Dass im Sommer 2014 auf israelfeindlichen Demonstrationen »Hamas, Hamas, Juden ins Gas« gerufen wurde und es aus den Demonstrationen heraus zu Übergriffen auf Juden und jüdische Einrichtungen kam, wundere sie nicht, sagt sie. Die Dämonisierung Israels in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung knüpft ihrer Meinung nach an die Verleumdung der Juden an, die sie selbst auf schmerzhafteste Weise erfahren hat.

Ganz im Gegensatz zu Henni Rothschild war Gertrud Klimowski überzeugt davon, dass sich die Deutschen geändert hätten. Sie müsse den wieder aufkeimenden Antisemitismus in Deutschland „erst noch verdauen“. Als die 10jährige Gertrud Jakobsohn an einem Tag im April 1933 nach Hause kam, sah sie gepackte Koffer und ihre Familie zur Abreise drängen. Mitten im Schuljahr und dazu noch am Tag, an dem sie bei ihrer Freundin Lena zur Geburtstagsfeier eingeladen war.
Es war der Boykottag, an dem auch das Warenhaus Schocken in Nürnberg angegriffen wurde nebst der Verleumdung über vergiftete Wurst. Ihr Vater, der in der Niederlassung der Warenhauskette des jüdischen Kaufmanns Salman Schocken eine leitende Position begleitete, sah sich genötigt, mit seiner Familie ins entfernte Hamburg zu fliehen, wo die antisemitischen Auswüchse noch hinter denen in der Nazi Hochburg Nürnberg zurückstanden.
Gertrud Klimowski, geborene Jacobsohn, wurde 1923 in Regensburg geboren, wo ihr Vater Geschäftsführer des Schocken-Warenhaus war. Salman Schocken besass zu Beginn der 20er Jahre bereits ein Dutzend florierende Warenhäuser.  1926 wurde in Nürnberg die 13. Niederlassung der Warenhauskette nach Plänen des Architekten Erich Mendelsohn eröffnet. Und Gertruds Vater wurde versetzt. Die Familie lebte in einer Villa unweit vom Tiergarten. Am Boykottag sahen sah Gertrud das Haus ihrer Kindheit zum letzten Mal.
Sie habe sich die Judenfeindlichkeit immer als Frust der Zu-kurz-Gekommenen in der Gesellschaft vorgestellt. Ein Phänomen, das mit der eigenen Notlage zu tun habe. Als sie aber im Rahmen einer Dokumentation über die Bewohner des Heims und deren Einstellungen zu Deutschland mit verschiedenen Artikeln von Jakob Augstein konfrontiert wurde, blieb ihr nur noch festzustellen, dass sie sich wohl geirrt habe. Wenn auch gut situierte Publizisten solche Meinungen vertreten, habe sie sich wohl Illusionen gemacht.

Vor einem Jahr gelang es dem Heim, Tuvia Tenenbom zu einem Vortrag mit anschließender Diskussion einzuladen. Der Autor sprach vor den Bewohnern über sein Buch “Allein unter Deutschen” und seine Einschätzung, dass die meisten Deutschen verkappte Antisemiten seien und sich am Judenhass seit der NS-Zeit nicht viel geändert habe. Zu seiner Überraschung fühlten sich nicht wenige Bewohner des Heims, denen Deutschland vermeintlich für immer verleidet wurde, von seinen Darlegungen unangenehm angegangen.

Als populistisch habe sie den Vortrag abgetan,  gibt Gertrud zu. Besonders hart ging Yair Noam vor einem Jahr mit Tuvia ins Gericht. Er warf dem Autor vor, sich gegenüber dem Wandel in Deutschland blind zu zeigen und Randphänomene aufzubauschen. Yair war wenige Wochen vor dem Vortrag in Berlin gewesen, wo er nichts von dem gesehen hätte, was Tuvia beschreibt. Unter Protest verließ er den Vortrag.

Inzwischen hat aber auch bei ihm ein Umdenken eingesetzt. Dass in der Süddeutschen Zeitung eine Karikatur abgedruckt würde, die Israel als gefräßigen Moloch darstelle, empfindet er als beschämend. Wer sich über das Vorgehen der Israelis empöre, lege falsche moralische Maßstäbe an. Yair war wenige Tage vor der Reichspogromnacht nach Palästina gelangt. Seine Eltern fielen dem Holocaust zum Opfer. Der Anlass seiner Reise nach Berlin im vergangenen Jahr war die Einlassung von Stolpersteinen. Warum der Antisemitismus in Deutschland wieder aufkeime, könne er nicht beantworten. Auch nicht die wahnsinnigen Vergleiche zwischen Israel und Nazi-Deutschland. Dazu müsse man einen Psychologen befragen.

Gertrud wundert sich indes,  was ihre Freundin dachte, als sie nicht zum Geburtstag kam.