Yehuda Maimon wird am Gedenktag für die Opfer und Helden des Holocaust 2019 eine der Fackeln entzünden. Der 95 jährige verbringt seinen Lebensabend im Elternheim Pinkhas Rozen in Ramat Gan.
2015 setzte er sich am Gedenktag für die Opfer und Helden des Holocaust seine Baskenmütze auf uns ließ sich von seinem Sohn und seiner Enkelin zu einem Treffen mit zwei ehemaligen Weggefährten chauffieren. Drei Holocaustüberlebende, die während des Krieges am gewaltsamen Widerstand gegen die Nazis beteiligt waren. Was die drei Männer aber persönlich verbindet, trug sich während des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals zu. Sie sind die letzten Verbliebenen der Gruppe „Nakam“ (hebr. für Rache), die am 14. April 1946 einen Anschlag auf das Kriegsgefangenenlager Stalag 13 in Nürnberg-Langwasser verübte.
In dem Lager waren über 10.000 SS-Männer und Nazi-Funktionäre interniert. Der Gruppe war es gelungen, einen “Praktikanten” in die Konsum-Bäckerei einzuschleusen, die das Lager mit Brot versorgte. Jeden Abend trafen sich die „Rächer“ und diskutierten ihren Plan. Es war ihnen gelungen in Frankreich Arsen zu gewinnen, das von einem Kurier nach Nürnberg geschmuggelt wurde. Nach Schichtende am Samstag, den 13. April, versteckte sich der Praktikant in einer Lagerhalle und ließ alsbald zwei weitere „Rächer“ unbemerkt in die Bäckerei einsteigen. Das Gift befand sich schon seit Tagen auf dem Werksgelände. Bei Einbruch der Dämmerung vergifteten sie ca. 2000 Brote. Yehuda war im Vorfeld des Anschlages für die Geldbeschaffung verantwortlich und nach der Ausführung für die Flucht.
Für ihn und seine Mitstreiter habe noch immer Krieg geherrscht, erklärt Yehuda fast 70 Jahre später. Seine beiden Weggefährten waren am Aufstand im Ghetto Wilna beteiligt. Er selbst war Teil des gewaltsamen Widerstandes gegen die deutschen Besatzer in Krakau. Die Rache sei für ihn die Fortsetzung dieses Krieges gewesen, sagt Yehuda. Teil des Kampfes gegen die Deutschen, die dem jüdischen Volk unermessliches Leid zugefügt hatten. Das offizielle Kriegsende konnte er selbst nicht als solches akzeptieren. Die Aussicht, dass der Mord an sechs Millionen Juden weitgehend ungesühnt bliebe, sei für ihn unerträglich gewesen.
Ich kenne Yehuda, der von seinen Freunden „Poldeg“ genannt wird, seit vielen Jahren aus dem Elternheim, in dem ich arbeite. Ich hatte viele Gelegenheiten, mich mit ihm zu unterhalten. Im Februar diesen Jahres diente ich dem deutschen Dokumentarfilmer Florian Krauss als Übersetzer für ein zweistündiges Interview mit Yehuda.
Am Gedenktag für die Opfer und Helden des Holocaust 2010 hat Yehuda Maimon, geborener Leopold Wassermann, bei der Zeremonie im Kibbuz Yad Mordechai die Fackel entzündet.
Yehuda stammt aus Krakau. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war er ein 15-jähriger Gymnasiast, überzeugter Zionist und Mitglied der zionistischen Bewegung Akiba. In Krakau, so erzählt er, lebten zu der Zeit 65.000 Juden. Für 20.000 wurde in der Stadt ein Ghetto errichtet.
Yehudas Familie entschloss sich, in Krakau zu bleiben und bezog, wie viele andere Familien auch, ein Zimmer in einer 3-Zimmer-Wohnung im Ghetto. Obwohl es im Ghetto sehr eng gewesen sei, hätte sich seine Familie entschlossen, die Stadt nicht zu verlassen. Sein Vater dachte, er könne sein Geschäft weiterführen.
Betätigungsmöglichkeiten und die Bewegungsfreiheit der Bewohner des Ghettos wurden aber immer weiter eingeschränkt. Es sei ein perfide ausgeklügelter Psychoterror gewesen, erinnert sich Yehuda. Einerseits sei die Not der Juden immer weiter verschärft worden, andererseits wurde ihnen aber immer ein kleiner Hoffnungschimmer gelassen.
Die Bewohner der Ghettos konnten sich nicht vorstellen, wie weit die Grausamkeit der Nazis gehen würde. Dann erreichten erste Nachrichten vom Massenmord an den Juden die Bewohner des Ghettos. Eine Botin des HaShomer HaTzair aus Wilna machte im Ghetto Krakau die Massenerschießungen in Ponar bekannt. Die älteren Bewohner des Ghettos hätten die Berichte erst nicht geglaubt. Krakau, so sagt er, sei Teil des Österreichisch-Ungarischen Reiches gewesen, und wie seine Eltern, hätten viele Juden der Stadt perfekt Deutsch gesprochen und die deutsche Kultur geliebt. Sie hätten schlicht nicht glauben können, dass die Deutschen, diese Kulturnation, die so viele Schriftsteller, Philosophen und Komponisten hervorgebracht hatte, fähig sei, einen Massenmord an den Juden zu begehen.
Yehuda und andere junge Zionisten verstanden dagegen, dass sie wie “Lämmer zur Schlachtbank” geführt würden, wenn sie nicht anfingen, sich zu wehren. Weil sie nicht sterben wollten, ohne sich widersetzt zu haben, gründeten Yehuda und andere Mitglieder der zionistischen Jugendbewegung Akiba die erste Widerstandsbewegung auf polnischem Boden.
Der Botin aus Wilna folgten weitere Botinnen mit Berichten, die den begonnenen Massenmord an den Juden außer Frage stellten.
Nahdem Anfang Juni 1942 die Deportationen in Krakau begannen, erfuhren die Bewohner des Ghettos aus unzweifelhaften Quellen, dass die Transporte ins Vernichtungslager Belzec gingen, erzählte Yehuda dem Dokumentarfilmer Florian Krauss.
Der zum gewaltsamen Widerstand entschlossenen zionistischen Jugendbewegung Akiba schlossen sich Mitglieder der religiös-zionistische Bewegung HaShomer HaDati, der sozialistisch-zionistischen Bewegung Dror-Freiheit (unter der Führung von Avraham Leibowitz) und Teile der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung HaShomer HaTzair an.
Die Widerstandsgruppe nannte sich
“החלוץ הלוחם”
“HaHalutz HaLochem”
“Pioneer Fighter”
“Der Kämpfende Pionier”.
Die Gruppe beschloss ausserhalb des Ghettos zu operieren. Yehuda gelang es, als Christ getarnt, ein Zimmer in Krakau zu mieten.
“Der Kämpfende Pionier” griff nach Möglichkeiten die deutsche Infrastruktur an. Yehuda verübte einen Überfall auf einen deutschen Versorgungszug, der Lebensmittel und Kleidung an die Ostfront bringen sollte.
Im Oktober 1942 wurde er mit seiner schwierigsten Mission betraut. Als eine Selektion stattfand, sollte er zurück ins Ghetto, um die dort verbliebenen Kameraden vor der Vernichtungsaussiedlung zu retten. „Poldek hielt seine Leute zusammen und führte sie von einem Keller zum nächsten. Aus der selbst auferlegten Quarantäne flüchtend“ schrieb eine seiner Mitstreiterinnen in ihr Tagebuch.7000 Juden aus dem Ghetto wurden bei der Oktoberaktion deportiert. Unter ihnen der Vater von Yehuda, Meir Wassermann.
Im November schlossen sich “Der Kämpfende Pionier” und eine Widerstandsgruppe des HaShomer HaTzair und kommunistische Juden zum ZOB nach Warschauer Vorbild zusammen. Weder er noch seine Freunde hätten die Illusion gehabt, dass die Deutschen besiegt werden könnten. Ihre Armee hatte ganz Europa erobert. Er sei sich sicher gewesen, die Nazis nicht zu überleben. Sein Antrieb zum Kampf sei gewesen, mit der Waffe in der Hand zu sterben. Er und seine Kameraden seien überzeugte Zionisten gewesen, die eigentlich nach Palästina auswandern wollten. Sie wollten sich der Vernichtung durch die Nazis nicht wehrlos ergeben. Er habe für die jüdische Ehre zur Waffe gegriffen, sagt er. Sie würden für “drei Zeilen in den Geschichtsbüchern kämpfen” gab der Anführer von Akiba, Aharon Liebeskind, die Losung aus.
Am 22. Dezember rüsteten sie sich für ihre größte Aktion. Ein koordinierter Angriff auf Treffpunkte der deutschen Besatzer. Zwei Tage vor Weihnachten konnten die Widerstandskämpfer sicher sein, dass viele Generäle und Gestapo Mitglieder ihr Vergnügen suchen und die Orte, die sie dafür aufsuchten gut gefüllt sein würden. Ihre Waffen waren v.a. Molotowcocktails, bei deren Herstellung die Widerstandskämpfer von seinem früheren Physiklehrer unterwiesen wurden.
„Unser Ziel war nicht, die Deutschen zu besiegen. Es ging darum zu zeigen, dass wir unsere Ehre bewahren. Sie mögen uns umbringen. Aber mit der Waffe in der Hand […]. Ich war 18, da hat man Mut. Ich war in einer guten Gruppe. Wir hatten großartige Befehlshaber, die uns Kampfgeist eingeimpft haben. Ich war Pionier, der davon geträumt hat, nach Eretz Israel auszuwandern. Ein Idealist […] in einer Gruppe von Idealisten. Diejenigen, die uns anleiteten und führten waren sehr charismatisch. Da möchtest du etwas tun. Da bist du vom richtigen Weg überzeugt […]. Ich wusste, dass dies das Ende ist. Aber in einer kämpfenden Gruppe zu sein, hat mir ein gutes Gefühl gegeben. Wenigstens wusste ich, dass ich nicht einfach so sterbe.“ Mit diesen Worten legte Yehuda Maimon seine Beweggründe dar. Bei einer Tasse Tee in seiner Wohnung war ihm anzumerken, welch tiefe und prägende Bedeutung die Tage im Untergrund für ihn hatten.
Um Yehuda zu verstehen, muss man den 22. Dezember 1942 verstehen.
An dem Winterabend versammelten sich die Mitglieder der verschiedenen Widerstandsgruppen in einer Hütte auf dem Gelände des ehemaligen jüdischen Krankenhauses. Gegen 5 Uhr abends kam der Befehlshaber der Aktion, Abraham Leibowitz mit Yitzhak Zuckermann (später stellv. Kommandeur des Aufstands im Ghetto Warschau) und erteilte bei Kerzenlicht die Anweisungen. Es sei der Moment gewesen, auf den sie sehnlichst gewartet hätten, erzählte mir Yehuda vor fünf Jahren, als ich ihn im Anschluss an die Zeremonie in Yad Mordechai das erste Mal zum jüdischen Widerstand gegen die Deutschen in Krakau befragte.
Der Plan war ein Angriff auf drei Cafés und ein Kino im Stadtzentrum, in denen sich Generäle und Gestapo vergnügten. Fahrzeuge der Besatzer sollten angezündet und Attentate auf Boote der SS auf der Weichsel verübt werden. Außerdem sollten deutsche Offiziere von Wehrmacht und Gestapo auf offener Straße umgebracht werden. Darüber hinaus sollten überall in der Stadt Plakate mit Aufrufen, sich zu erheben, angeklebt und polnische Fahnen an öffentlichen Plätzen und zentralen Gebäuden gehisst werden.
Die Aktion verlief erfolgreich und hinterließ einen gewaltigen Eindruck. Es war das erste Mal seit Einmarsch der Deutschen in Polen, dass sich Widerstandskämpfer wagten, die deutschen Besatzer auf offener Straße zu töten. Und das in Krakau, der Hauptstadt des Generalgouvernements.
An diesem Tag haben viele junge Zionisten ihren Traum von der Auswanderung nach Eretz Israel geopfert. Statt dem Aufbau der jüdischen Heimstätte, widmeten sie ihr Leben dem Kampf gegen die übermächtigen Deutschen.
Yehuda war am 22.Dezember verantwortlich für die Koordination der Ausbringung von Plakaten und Fahnen.
Nach der Aktion traf er in seinem Versteck auf seinen Kameraden Itzik, der Molotowcocktails auf das Café Cyganeria geworfen hatte, in dem die Deutschen feierten. Blutüberströmt und mit hohem Fieber erzählte Itzik vom Erfolg der Aktion. Dem Angriff auf das Café fielen bis zu einem Dutzend Deutsche zum Opfer. Es sei eine unvergessliche Nacht gewesen, erzählte Yehuda. Sie alle seien glücklich gewesen. Zum ersten Mal seit Ausbruch des Krieges hätten sie sich wie Menschen gefühlt.
In der polnischen Bevölkerung machten Gerüchte die Runde, wonach russische Fallschirmjäger die Deutschen angegriffen hätten. Niemand hätte glauben können, dass Juden zu solch einer koordinierten und wirksamen Aktion fähig seien.
Die meisten seiner Mitstreiter hätte er in den Tagen, die den Anschlägen vom 22. 12. 1942 folgten, an eine Verhaftungs- und Tötungswelle verloren, sagt Yehuda, der selbst unentdeckt bleiben konnte. Sich zu verstecken sei fast unmöglich gewesen, erzählt er. Das Ghetto sei schon deutlich verkleinert worden und polnische Familien, die Juden versteckten, so erzählt Yehuda, seien mit dem Tod betraft worden. Von den 80 Kameraden, die er hatte, blieben 30 übrig. Sie machten als Partisanen weiter.
Bei einem geplanten Raub wurde er im März 1943 verraten, verhaftet und in eines der berüchtigtsten Gefängnisse der SS gesteckt. Nach einer Woche Verhör kam er in den Todestrakt. Von dort aber kam er als politischer Häftling per Gerichtsbeschluss mit einer Gruppe von 7 Männern und 3 Frauen nach Auschwitz. Warum er nicht, wie andere Insassen, ermordet wurde, weiß er bis heute nicht. Es müssen irgendwelche bürokratischen Gründe gewesen sein, die man vielleicht einmal in den Dokumenten nachsehen müsste.
In Auschwitz, so erzählt er, sei es im Grunde nicht möglich gewesen, mehr als vier oder fünf Monate zu überleben. Die Zwangsarbeit hätte alle Kräfte aufgezehrt und ein Stück Brot, ein Nichts an Margarine und verwässerte Suppe hätten den Substanzverlust nicht ausgleichen können. Die nicht mehr Arbeitsfähigen seien regelmäßig ausselektiert und in die Krematorien geschickt worden. Die Selektion erfolgte anhand einer Inspektion der nackten Körper.
Yehuda selbst kam nach einem Monat Gefängnis bereits geschwächt in Auschwitz an. Nach wenigen Wochen Zwangsarbeit wurde er krank.
Im Krankenhaus, das es in Auschwitz gab, durfte ein Patient nicht länger als 14 Tage sein. Wer nach zwei Wochen nicht gesund war, wurde ins Krematorium geschickt. Yehuda erkrankte schwer und hatte am 13. Tag 40 Grad Fieber. Er sollte am nächsten Tag in den Tod geschickt werden. Vor seinem Tod wollte er unbedingt noch die Geschichte vom jüdischen Widerstand in Krakau weitergeben. Er erzählte sie einem Pfleger, von dem er nicht wusste, aus welchem Grund er in Auschwitz war, da die Pfleger und Schwestern nicht gekennzeichnet waren.
Es stellte sich heraus, dass es ein Jude war, 10 Jahre älter als Yehuda und Apotheker, weswegen er als Pfleger angestellt war. Es stellte sich weiter heraus, dass er ebenfalls Mitglied von Akiba war und dass er zum Untergrund in Auschwitz gehörte. Nachdem sich der Pfleger an seinen Vorgesetzten aus dem Untergrund gewendet hatte, wurde Yehuda verlegt und als Neuzugang ausgewiesen. Er wurde für den Untergrund rekrutiert. Es sei eine kommunistische Widerstandsbewegung gewesen, erzählt er. Er habe darauf bestanden, als Zionist aufgenommen zu werden. Denn Kommunist sei er nie gewesen.
Das Ziel des Untergrunds in Auschwitz sei es gewesen, bei der bereits zu erwartenden Auflösung des Lagers loszuschlagen. Die Annahme war, dass die Deutschen alle Insassen umbringen würden, wenn sie das Lager liquidieren. Von den 10.000 Gefangenen in Buna-Monowitz (Auschwitz III), wo Yehuda interniert war, so die Annahme, könnte vielleicht die Hälfte der Ermordung entkommen, wenn sie bei der Auflösung des Lagers losschlagen würden. Die Widerstandsgruppe schaffte nach Möglichkeit Materialien zur Seite und bemühte sich in der Hauptsache bei Kräften zu bleiben. Yehuda überlebte 22 Monate in Auschwitz.
Am 18. Januar begann die Räumung des Lagers. Sie sollte als Todesmarsch in die Geschichtsbücher eingehen. Damit, so erinnerte sich Yehuda beim Interview für den Dokumentarfilm, hätte niemand rechnen können. „Wer hätte sich vorstellen können, dass sich die Deutschen so etwas wie einen Todesmarsch ausdenken würden“.
Yehuda gelang es, nach drei Tagen mit einer Handvoll Kameraden zu entkommen. Eine kleine Gruppe aus acht Mann hatte sich beim Abmarsch in Auschwitz fest vorgenommen zu fliehen. Der Fluchtversuch von dreien misslang. Sie wurden erschossen.
Yehuda und vier anderen gelang es im Lager Gleiwitz zu entkommen.
In dem Lager wurden, in der Nacht vom 20. auf den 21. Januar, Inhaftierte aus verschiedenen Konzentrationslagern zusammengeführt. Das Lager, nahe der Front gelegen, sei stockdunkel gewesen, erinnert sich Yehuda. Da er und seine Kameraden für die frühen Morgenstunden ihre Flucht geplant hatten, wollten sie unbedingt ein bisschen Schlaf bekommen. Auf der Suche nach einem Schlafplatz in dem völlig überfüllten Lager, sei er auf seinen Bruder gestoßen, den er mehr als zwei Jahre nicht gesehen hatte. Vergeblich versuchte er ihn zu überreden, mit ihm zu flüchten. Sein Bruder sah keine große Chance in Häftlingskleidern zu überleben. Sie würden verraten und umgebracht werden, war er sich sicher.
Doch Yehuda blieb entschlossen zu fliehen. Er und seine Kameraden gelangten in den Morgenstunden auf die Balken unterhalb des Giebels des Lagers, wo sie in Eiseskälte ausharrten. Als das Lager geräumt wurde – Yehuda kann sich noch genau an die Rufe „Alle raus! Alle raus!“ erinnern – blieben sie unentdeckt. Einige Zeit später aber kamen SS-Uniformierte mit Hunden zurück und spürten im Lager einige auf, die sich versteckt hielten. Yehuda und seine vier Kameraden waren sich sicher, dass ihr Ende gekommen war. Doch sie blieben abermals unentdeckt. Nach Stunden, als sie bereits zu erfrieren drohten, stiegen sie ins Lager herunter. Das Lager lag verlassen da und die fünf machten sich auf den Weg in die nächstgelegene Stadt.
Vorsichtig gingen sie von Haus zu Haus und klopften an die Fenster. Sie hätten sich keine großen Hoffnungen gemacht, sagt Yehuda. Immerhin sei die Front in hörbarer Nähe gewesen und wer öffne da nachts sein Haus. Doch tatsächlich öffnete eine junge Frau, die mit ihrer Mutter zusammenlebte, die Tür. Yehuda erklärte ihr auf Polnisch, dass sie polnische Gefangene auf der Flucht seien. Dass sie Juden waren, verschwiegen sie und beim Hände waschen achteten sie darauf, ihre Nummern nicht zu entblößen. Sie fanden im Kartoffelkeller des Hauses ein Versteck. Nach weiteren sieben Tagen wurde die Stadt von der Roten Armee befreit. Sie hätten gewusst, dass sie den Deutschen endgültig entkommen seien, beschreibt Yehuda sein Gefühl, als er aus dem Keller stieg. Was zunächst blieb, war die Sorge vor den Russen, die sich aber (in ihrem Fall) als unbegründet erwies.
Nach der Befreiung Polens kehrte Yehuda in seine Geburtsstadt Krakau zurück. Es seien die tragischsten Eindrücke seines Lebens gewesen, erzählt er, die geliebte Stadt seiner Kindheit in Trümmern zu sehen. Es sei der schlimmste Tag seines Lebens gewesen.
In Auschwitz, so sagt er, habe man nicht nachgedacht. Man sei zu schwach und geschunden gewesen, um zu denken. Man habe nur von Augenblick zu Augenblick denken können. Nicht ans Morgen. Weil sich das Leben in Auschwitz sich nur im gleichen Moment abgespielt habe. Niemand habe geglaubt, Auschwitz zu überleben.
„Der allerschwerste Tag war, als ich nach Krakau kam. Das war am 2. Februar an meinem 21. Geburtstag. Ich kam nach Krakau und in Krakau gab es 65.000 Juden. Und sie waren alle verschwunden. Alle ihre Häuser waren leer. […] Alles stand leer. Und da habe ich die Katastrophe begriffen, die dem jüdischen Volk widerfahren war.“ Plötzlich sei ihm das Ausmaß der Judenvernichtung klar geworden. Seine Eltern und der größte Teil seiner Familie wurden von den Deutschen während der Shoa ermordet.
Das Mädchen, das er über alles liebte, war in einem deutschen Gefängnis umgekommen.
Er selbst, so erzählt Yehuda, habe nur noch einen Sinn im Leben gesehen. Nach Eretz Israel zu gehen und dort die Geschichte vom Widerstand in Krakau weiterzugeben, um sie aufzuheben und vor dem Vergessen zu bewahren.
Im April 1945 gelangte er auf seinem Weg Richtung Palästina nach Bukarest, wo er auf Abba Kovner traf, den charismatischen jüdischen Dichter. Als Anführer einer jüdischen Widerstandsgruppe kämpfte Kovner im Ghetto Wilna und später als Partisan gegen die deutschen Besatzer. Nach dem Krieg gründete er die Rachegruppe „Nakam“.
Sorgsam versammelte der jüdische Schriftsteller Widerstandskämpfer und Partisanen um sich. Über Zvia Lubetkin, der Kampfgenossin (und späteren Frau) von Itzhak Zuckermann, wusste Abba Kovner über Yehuda und dessen Anteil am Widerstand in Krakau Bescheid.
Die Forderung Kovners lautete: Für jeden der Millionen getöteten Juden sollte ein Deutscher sterben.
Yehuda sah in der Rache „erneut eine Berufung. Ich sah, dass ich überlebt habe, um etwas zu tun”.
Alles, was sie im Sinn hatten, war Vergeltung, bezeugten auch seine Weggefährten, mit denen er sich am Gedenktag für die Opfer und Helden des Holocaust 2015 traf.
Der große Plan der Gruppe „Nakam“ war, das Trinkwasser in Nürnberg zu vergiften. „Wir hatten bereits einen Mann ins Wasserwerk eingeschleust“ bekundete Joseph Harmatz, einer der beiden Weggefährten. Alles sei vorbereitet gewesen, erinnerte sich der Befehlshaber der Gruppe. Im Yishuv (dem vorstaatlichen jüdischen Gemeinwesen in Palästina) gelang es Abba Kovner ausreichende Mengen von Arsen zu besorgen. Kurz vor der Umsetzung wurde das Vorhaben von der späteren israelischen Staatsführung um Ben Gurion verraten. Abba Kovner wurde mit zwei Kanistern hochpotentiellen Gifts auf dem Weg zurück nach Europa von den Briten verhaftet. Es gilt heute als historisch gesichert, das die Hagana – die jüdische Untergrundarmee des Yishuw – den entscheidenden Hinweis an die Briten gab.
Yehuda gegenüber dem Dokumentarfilmer Florian Krauss auf die Frage mit welchem Gefühl er sich „Nakam“ angeschlossen hat: „Ich hielt es für richtig. Ich sah es als Fortsetzung des Krieges an. Als Möglichkeit als Juden die Deutschen zu bekämpfen. Jetzt hatten wir die Oberhand. Die Deutschen waren angeschlagen. Wir wollten sie bekämpfen. Wir wollten Vergeltung.“
Die Gräueltaten der Deutschen seien unbeschreiblich gewesen, erklärt Yehuda. Die Deutschen hätten hunderte Juden in Synagogen gesteckt, um sie lebendig zu verbrennen. Sie hätten Müttern ihre Kinder entrissen, um sie vor deren Augen zu töten. Yehuda erzählt, dass sterbende Juden überall mit ihrem Blut vor ihrem Tod “Nakama” geschrieben hatten, “Rache”. Für ihn sei der Krieg nicht einfach zu Ende gewesen. Die Deutschen hätten mit dem Mord an sechs Millionen Juden nicht einfach ungestraft davonkommen dürfen.
Auf Nachfrage bestätigt er, dass ihr Ziel die deutsche Bevölkerung gewesen sei. Die Deutschen hätten beim millionenfachen Judenmord weder den 2 Monate alten Säugling, noch den 91-jährigen Greis verschont. Und dafür sollten sie bezahlen. Es beleidige den menschlichen Verstand anzunehmen, dass es sich beim Holocaust um ein Verbrechen einiger Parteioberer gehandelt hätte und nicht um eine unmenschliche Schandtat, an der das ganze deutsche Volk Anteil hatte.
Dass ihnen die Vergiftung des Trinkwassers nicht gelungen sei, habe nicht an einem Mangel an Entschlossenheit gelegen. Ben Gurion und die Führung des Yishuw seien ihnen im Wege gestanden. Harmatz grämt sich noch heute, dass der große Plan nach monatelanger Vorbereitung kurz vor der Ausführung verraten wurde.
Auch die gelungene Ausführung ihres Plan B – der Brotvergiftung – brachte eine Enttäuschung. Die Amerikaner bemühten sich nach Möglichkeit, die Geschehnisse unter Verschluss zu halten. Obwohl die New York Times von über 1200 vergifteten Strafgefangenen berichtete, wurde nicht ein Todesfall bekannt. Die Rache blieb eine kleine Randnotiz in der Geschichte des Holocaust.
Danach machte sich Yehuda auf den Weg nach Palästina. Auf dem Weg zu einem der Schiffe, die jüdische Flüchtlinge illegal nach Palästina brachten, lernte er in den dolomitischen Alpen Aviva kennen, geborene Frede Libermann.
Die im September 2015 verstorbene Aviva war im oberschlesischen Sosnowiec als Mitglied des HaShomer HaTzair im zionistischen Untergrund aktiv. Zionistischen Jugendorganisationen gelang es einer Anzahl von Juden aus Sosnowiec zu helfen, in Deutschland und Ungarn unter falscher Identität unterzutauchen. Der Etablierung eines Ghettos und der Zwangsarbeit folgten in Sosnowiec die Liquidierung und die Deportationen nach Auschwitz. 1943 wurde ein bewaffneter Aufstand der Juden von den Deutschen niedergeschlagen. Aviva selbst überlebte die Kämpfe und auch den Holocaust. In den Nachkriegswirren entschloss auch sie sich zur Auswanderung nach Palästina.
Yehuda und Aviva lernten sich während der Alpenüberquerung kennen und trafen sich später in Italien wieder, wo sie das gleiche Vorbereitungscamp für die Ausreise nach Palästina durchgemacht haben. Nachdem sie illegal nach Eretz Israel gelangt waren, heirateten sie noch im August 46.
Die Widerstandskämpfer Yehuda und Aviva Maimon waren mehr als 65 Jahren verheiratet.
Für ihn persönlich habe der Krieg nie aufgehört, sagt Yehuda. Auschwitz würde ihn unaufhörlich verfolgen.
“Es ist unmöglich zu vergessen, was ich durchgemacht habe. Auschwitz kann ich nicht vergessen. Wer in Auschwitz war, träumt jede Nacht davon. Mit Leuten, die mit dir dort waren, redest du ständig darüber. Du kannst trinken, tanzen, feiern. Am Ende redest du über Auschwitz. Für Leute wie mich ist der Krieg nicht zu Ende.”
Doch obwohl für ihn selbst der Krieg nie aufgehört habe, habe er heute eine andere Einstellung als nach dem Krieg. „Es gibt keinen Grund mehr für Rache. Das ist vorbei. Dieses Kapitel des aktiven Kriegs, wo einer den anderen tötet. Das ist vorbei“
Für ihn sei der Kampf gegen Deutschland vorbei gewesen, als es zur Aufnahme von Beziehungen zwischen Israel und Deutschland kam. Man könne nicht diplomatische Beziehungen mit Deutschland unterhalten, die Israel helfen, und gleichzeitig Deutschland hassen.
Und in den Deutschen von heute sehe er keine Feinde. Sondern Verbündete. Allerdings dürfe es auf keinen Fall passieren, dass vergessen wird, was passiert ist.
Yehuda diente 24 Jahre in der israelischen Marine und erreichte den Rang eines Oberstleutnants. Nach seiner Entlassung wurde er Vorstandsvorsitzender der Mechanomatic Israel Ltd. Nach seiner Pensionierung engagierte er sich als Freiwilliger in verschiedenen sozialen Projekten. Yehuda ist Vater von 2 Kindern und stolzer Großvater von 7 Enkelkindern.